„Auch andere Tiere haben eine Meinung über das gute Leben“

„Auch andere Tiere haben eine Meinung über das gute Leben“

Interview mit der Philosophin Eva Meijer über Animal Agency und ihre Arbeit

Dr. Eva Meijer ist Philosophin an der Universität von Wageningen in den Niederlanden. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit tierlicher Agency und der Frage, wie nichtmenschliche Tiere in die politische Sphäre eingebunden werden können. Neben ihrer Arbeit als Philosophin ist sie auch Autorin und auch in ihrem literarischen Schaffen thematisiert sie die Mensch-Tier-Verhältnisse. Außerdem ist Eva Meijer Künstlerin und Musikerin. Einen Einblick in ihre Arbeit und ihre Ansichten zu tierlicher Agency gibt sie im folgenden Interview.

 

Frage: Liebe Eva, als erstes Vielen Dank für deine Zeit. Würdest du dich bitte unseren Leser*innen vorstellen?

Hallo Leser*innen, ich bin Autorin und Philosophin aus den Niederlanden, die ihr Zuhause und Leben mit zwei ehemaligen Straßenhunden aus Rumänien und zehn ehemaligen Labormäusen teilt.

Wie bist du dazu gekommen dich mit „Tierfragen“ zu beschäftigen? Und was hat sich seitdem für dich in deinem Denken über Tiere* verändert?

Ich hatte immer Freundschaften mit anderen Tieren – Katzen, Pferden –, die mein Verständnis der Welt geprägt haben. Ich wurde in jungen Jahren Vegetarierin (als ich begriff, dass dies eine Option war) und später Veganerin. Die Frage der Gerechtigkeit gegenüber anderen Tieren war also immer mit meinen eigenen Erfahrungen mit anderen Tieren verbunden. Dies wurde zu einem wichtigen Thema in meiner Arbeit, als ich begann meine Doktorarbeit in Philosophie zu schreiben.

Du bist Philosophin und hast mit „Die Sprachen der Tiere“ und „Was Tiere wirklich wollen“ zwei Werke verfasst, die zu einem Um- beziehungsweise Neudenken der Mensch-Tier-Verhältnisse anregen. Warum beschäftigst du dich damit, ob „Tiere sprechen“ beziehungsweise wie „Tiere sprechen“?

Sehr oft werden nichtmenschliche Tiere als stumm angesehen, unfähig, ihre Ansichten und Perspektiven zu äußern. Vielleicht nicht auf individueller Ebene, aber gesellschaftlich und politisch. In meiner Dissertation, aus der das Buch „When animals speak: Toward an interspecies democracy“ wurde, habe ich mich auf die Frage nach der politischen Stimme der Tiere konzentriert. Wer demokratisch spricht, entscheidet über die Art der Gesellschaft, in der wir leben. Auch andere Tiere haben eine Meinung über das gute Leben. Wir teilen den Planeten mit ihnen, und oft auch Städte und Gesellschaften. Dies ist auch ihre Welt. Die Forschung (und der gesunde Menschenverstand) zeigen, dass sie auf komplexe Weise kommunizieren, Kulturen haben und so weiter. Dies sollte aus Gründen der Gerechtigkeit ernst genommen werden. Es kann den Menschen auch helfen, über bessere Wege nachzudenken, wie sie angesichts des Klimawandels leben können.

Dass Tiere keine Stimme hätten, ist ja auch in den Tierbewegungen durchaus anzutreffen, beispielsweise in Slogans wie „Wir sind die Stimme der Stimmlosen“. Was denkst du sollte sich mit Blick auf die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung beziehungsweise Tierpolitik ändern, wenn nichtmenschliche Tiere nicht mehr als die „Stimmlosen“ betrachtet werden?

Unsere Sicht auf die Multispezies-Gesellschaft, in der auch andere Tiere Rechte haben, bedeutet, dass wir ihre Stimmen als gültig (und ich würde sagen, als wichtig) anerkennen sollten. Ich denke, dass viele Tierrechtsorganisationen dies verstehen und mit „stimmlos“ meinen, dass Tiere keine politische Stimme haben. Aber es ist wichtig, stereotype Ansichten von Tieren als stimmlos in der Tierrechts-Arbeit nicht zu wiederholen, denn das hält die Ansicht aufrecht, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Wünsche zu äußern. In der Praxis bedeutet dies, mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über ihre Fähigkeiten Schritt zu halten, sie nach Möglichkeit nach ihrer Meinung zu fragen (zum Beispiel im Zusammenhang von Lebenshöfen) und sie als vollwertige Subjekte darzustellen, statt als jemand, für den man sprechen muss.

Außerdem sind das Schreiben und Sprechen über Tiere und ihre Sprachen eine Form des Aktivismus in einer Welt, die ihren Wert nicht anerkennt.

Was verändert sich, auch im politischen Kontext, wenn wir nicht nur über, sondern, zumindest verstehe ich es so, mit nichtmenschlichen Tieren ins Gespräch kommen? Welche Auswirkungen könnte das für kulturelle, soziale und politische Gemeinschaften mit Tieren haben?

Selbst diejenigen, die es gut meinen, haben oft Vorstellungen darüber, was gut für Tiere ist oder was sie wollen. Aber wir alle sind geprägt durch Jahrhunderte der Ausbeutung und Beherrschung von Tieren, die nicht nur die Wahrnehmung ihrer Ausdrucksweise, sondern auch unsere Vorstellungen von ihnen geformt haben. Das bedeutet also, das zu verlernen, was wir zu wissen glauben, und von ihnen zu lernen. Es würde viele Veränderungen in der Gesellschaft erfordern. Tierrechte wären ein Ausgangspunkt, und die Umgestaltung des öffentlichen Raums. Aber wir sollten auch als Menschen einen Schritt zurücktreten und zuhören.

In deinem zweiten philosophischen Werk „Was Tiere wirklich wollen“ gehst du unter anderem darauf ein, dass nichtmenschliche Tiere Widerstand gegen ihre Nutzung zeigen. Kannst du uns einige Beispiele nennen? Und was bedeutet das, sowohl für die Tierbewegungen als auch die menschlichen Gesellschaften, wenn wir diesen Widerstand als solchen ernst nehmen und nicht als zufällige Ereignisse betrachten?

Viele nichtmenschliche Tiere leisten Widerstand – in Zoos, Labors, Farmen. Es wird oft nicht als strukturell erkannt. Jason Hribal hat darüber ein gutes Buch geschrieben, „Fear of the animal planet“, das zeigt, dass diese Vorgänge oft verheimlicht oder heruntergespielt werden, um das Ausmaß nicht zu offenbaren, damit diese Praktiken weitergehen können. Die Motive [der Verschleierung] sind oft ökonomisch. Für menschliche Aktivist*innen (diese Tiere sind auch Aktivist*innen) sollten wir Verbündete sein, diese Praktiken unterstützen und ans Licht bringen, zeigen, dass es nicht willkürlich ist, sondern dass auch diejenigen, die sehr wenig Platz haben (wie Labortiere), Widerstand leisten können. Natürlich verdienen diejenigen, die sich nicht wehren können oder wollen, genauso viel unserer Aufmerksamkeit.

Im selben Buch fragst du auch, wie nichtmenschliche Tiere bereits an politischen Aushandlungsprozessen beteiligt sind, auch wenn dies meist ausgeblendet wird. Welche Beteiligung von Tieren in der politischen Sphäre siehst du bereits und was bedeutet das für den menschlichen „Politik“-Begriff, der Tiere bisher ja kategorisch ausschließt?

Die meisten unserer Beziehungen zu anderen Tieren beinhalten Herrschaft und Macht, was sie in gewissem Sinne politisch macht. Es gibt verschiedene Arten von Handlungen, Widerstand ist eine davon. Auch Konflikte zwischen Gruppen von Wildtieren und Menschen sind oft politisch – zum Beispiel Kämpfe um Territorien. Ich diskutiere das Beispiel der Gänse und schlage vor, sie als politische Akteur*innen zu betrachten, die mit ihren Handlungen zur Deliberation[1] über Land fähig sind. Das bedeutet, neu zu überdenken, was „Deliberation“ bedeutet, als eine verkörperte, fortlaufende Praxis anstelle einer Diskussion in menschlicher Sprache. Wir finden ähnliche Diskussionen im Feminismus und in der dekolonialen Theorie, auf die wir zurückgreifen können

Wie könnten deiner Meinung nach neue Interspezies-Gemeinschaften aussehen, wenn wir tierliche Agency ernstnehmen würden?

Diese Frage können wir nur gemeinsam mit den anderen Tieren beantworten. Einige Philosoph*innen betrachten Lebenshöfe als Räume, in denen wir mit anderen Tieren diskutieren können, was das gute Leben bedeutet. Das bedeutet auch, dass wir ihnen Entscheidungsfreiheit in sozialen Fragen geben und sie mitgestalten lassen, wie das tägliche Leben aussieht.

Neben deiner Arbeit als Philosophin bist du auch als Literatin unterwegs. In deinem Buch „Das Vogelhaus“ thematisierst du das Leben von Gwendolen „Len“ Howard in Romanform. Was können wir von „Len“ über Wissenschaft und über andere Tiere lernen?

Len Howard war eine Violinistin, die in den 1950er Jahren Vögel studierte. Zu dieser Zeit wurden Vögel meist in Labors untersucht. Howard glaubte, dass dies in gewisser Weise schlechte Wissenschaft war: Sie [die Vögel] konnten nicht fliegen, hatten keine sozialen Beziehungen und so weiter, was ihre Verhaltensweisen beeinflusste. Also entschied sie sich für einen anderen Weg sie zu studieren und öffnete die Fenster ihres Hauses. Sie baute enge Beziehungen zu vielen Singvögeln auf und war in der Lage, ihre Persönlichkeiten und Beziehungen sowie ihre Lebensweise im Detail zu beschreiben. Dadurch erhalten wir eine andere Perspektive auf sie. Zu ihrer Zeit wurde die Forschung von vielen anderen Wissenschaftler*innen nicht ernst genommen. Heutzutage studieren mehr Biolog*innen und Etholog*innen Tiere in ihren Lebensräumen oder sogar in ihrem eigenen Haushalt wie Howard dies tat. Diese Art der Forschung kann dazu beitragen, bessere Beziehungen zu anderen Tieren zu entwickeln und die Welt auf gerechtere Weise zu teilen. Wir müssen uns jedoch immer der Vorurteile bewusst sein, die unseren Wissenssystemen innewohnen, und daran arbeiten, diese zu überwinden.

Wie bereits angesprochen bist du sowohl in der Literatur als auch in der Philosophie zu Hause. Wie beeinflussen sich diese beiden Welten in deiner Arbeit gegenseitig?

Manchmal beschäftige ich mich in Romanen und philosophischen Arbeiten mit denselben Fragen – wie in Das Vogelhaus und einem Roman über den Tieraktivismus, den ich geschrieben habe – „Dagpauwoog“. Und manchmal konzentriere ich mich auf unterschiedliche Themen, wie in neueren Arbeiten. Literatur ist ein weiterer Zugang zur gemeinsamen Welt, ich habe das Glück, in verschiedene Richtungen arbeiten zu können. Die Arbeit formt mich genauso, wie ich die Arbeit forme.

Abschließend würde mich noch interessieren, was deine nächsten Projekte sein werden. Wird es einen neuen Roman, ein Sachbuch oder etwas ganz anderes von dir in nächster Zeit geben?

Zwei meiner anderen Romane werden ins Deutsche übersetzt – einer handelt von veganen anarchistischen Kommunen (1920 und heute) und einer ist ein magisch-realistischer Krimi mit dem Namen „neuer Fluss“. Mein Sachbuch über Philosophie und Depression „The limits of my language“ wird ebenfalls ins Deutsche übersetzt werden.

Eva, noch einmal vielen lieben Dank für deine Zeit und deine Antworten! Möchtest du zum Schluss des Interviews unseren Leser*innen noch etwas mitteilen?

Vielen Dank für deine Fragen und an die Leser*innen, dass Sie dies gelesen haben. Tieraktivismus kann anspruchsvoll und schwierig sein, aber wir sind nicht allein.

 

Fragen: Tom Zimmermann
aus: Tierbefreiung 111 / Juni 2021
Beitragsbild: Eva Meijer (Foto: Sebastian Steveniers)

 

[1] Unter Deliberation kann „Beratschlagung“ oder „Überlegung“ verstanden werden. Im Sinne der tierlichen Agency deutet der Begriff an, dass auch andere Tiere in die Entscheidungsfindungen in menschlichen Gesellschaften eingebunden werden.
 

 

Bisher sind von Eva Meijer in deutscher Übersetzung erschienen:

Eva Meijer: Die Sprachen der Tiere. Matthes & Seitz, Berlin, 2018

Eva Meijer: Was Tiere wirklich wollen – Eine Streitschrift über politische Tiere und tierische Politik. btb Verlag, München, 2019

Eva Meijer: Das Vogelhaus. btb Verlag, München, 2020

Mehr Informationen zu Eva Meijers Arbeit finden sich auf ihrem Blog: https://www.evameijer.nl/en