Über die Tierindustrie und die Fleischproduktion wird zurzeit so viel diskutiert wie schon lange nicht mehr. Der Druck, den die Fleischkonzerne gerade erfahren, war wahrscheinlich noch nie so groß. In dem medial geführten Diskurs kommt es zu einem Wechsel von Themen. Am Anfang der Corona-Krise wurde viel über den Zusammenhang von der Tierindustrie mit der Entstehung von Pandemien wie Covid-19 berichtet. Nachdem es zu massenhaften Corona-Ausbrüchen in den deutschen Schlachthäusern kam, wurde die Berichterstattung von einer Diskussion über die unerträglichen Arbeitsbedingungen in den Schlacht- und Zerlegebetrieben abgelöst. Auch der Streit um minimale Tierschutzreformen wie die Abschaffung der Kastenstände waren Teil der öffentlichen Auseinandersetzung der letzten Monate. Zeitgleich wurde viel über die unsägliche Politik von Brasiliens Präsident Jair Balsonaro berichtet und diskutiert, auch deren Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung im Amazonas-Gebiet und die Zunahme an Regenwaldrodungen wird zum Gegenstand medialer Berichterstattung gemacht. Was fehlt ist die Herstellung eines Zusammenhangs dieser Themen.
Dabei muss eins klar sein: Das Erfolgsmodell der deutschen Tierindustrie beruht auf einer extremen Intensivierung der Tierhaltung, niedrigen Löhnen und einem erheblichen Mangel an Arbeitsschutz sowie massiver Naturzerstörung und Futtermittelimporten.
Das Besondere an der Fleischindustrie in Deutschland ist, dass all diese Formen der Ausbeutung maximal ausgereizt werden, sodass die Umsetzung beinahe jeglicher Reform die Industrie vor massive Probleme stellen würde, zum Beispiel die Abschaffung der Kastenstände und des Kükenschredderns, die Abschaffung von Werkverträgen und Leiharbeit, die Einhaltung der Gülleverordnung der EU und ein Stopp von Futtermittelimporten.
Deutschland ist der drittgrößte Fleischexporteur der Welt und konkurriert mit riesigen Flächenländern wie den USA, China, Argentinien und Brasilien. Die Flächen hierzulande reichen bei weitem nicht aus, um die Menge an Tieren, die für die hiesige Fleischproduktion benötigt werden, zu ernähren, weshalb die deutschen Fleischkonzerne auf Importe von Futtermitteln angewiesen sind. Der größte Teil des importierten Futtermittels besteht aus Soja, welches circa 10 Prozent des in Deutschland verbrauchten Tierfutters ausmacht und zu den wichtigsten Agrarimporten zählt. Konzerne wie die PHW-Gruppe (Marke Wiesenhof) beziehen ihr Soja – wie sie sogar stolz in einen Werbeclip verkünden – zu 100 Prozent aus Brasilien. Auch wenn für die Sojaanbauflächen nicht immer direkt Regenwald gerodet wird, so führen deren Erweiterungen doch dazu, dass andere Flächen weichen müssen und in Richtung Regenwald gedrängt werden. So führt jede neue Mastanlage und jede Schlachthauserweiterung zu einer Verkleinerung des wertvollen Amazonas-Waldes, und dieser schrumpft in den letzten Jahren dramatisch. Mit dem Machtantritt des rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro wurde das Problem noch gravierender. Eine aktuelle Studie – die am 17. Juli im US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht wurde – belegt, dass illegale Entwaldung weiterhin ein bedeutendes Problem in den brasilianischen Regenwaldgebieten darstellt.
Die Wissenschaftler*innen betrachten die Gebiete des Amazonas und der Cerrados, den brasilianischen Ökosystemen mit den höchsten Entwaldungsraten. Sie kommen zu der Einschätzung, dass ungefähr 20 Prozent der Sojaimporte sowie mindestens 17 Prozent der Rindfleischimporte der EU aus Produktionsbetrieben stammen, die illegal Wälder roden. Darüber hinaus kommen sie zu der Einschätzung, dass ein Großteil der illegalen Entwaldung von einigen bestimmten Produktionsbetrieben vorgenommen werde: insgesamt seien zwei Prozent der Landbesitze in den Gebieten verantwortlich für mehr als 60 Prozent der gesamten potentiell illegalen Entwaldung.
Die Zunahme der Naturzerstörung und das damit verbundene Artensterben begünstigt die Entstehung von Zoonosen wie Covid-19. Durch die Importe von Futtermitteln entstehen enorme Kosten, die durch die extrem niedrigen Löhne und dem Mangel an Arbeitsschutz in den Schlachthäusern sowie der enormen Intensivierung der Tierhaltung ausgeglichen werden.
Corona in Brasilien
Die Pandemie hat Brasilien hart getroffen. Da Bolsonaro die Gefahr dieser Krankheit herunterspielt und Maßnahmen boykottiert, die die Verbreitung des Virus eindämmen würden, ist Brasilien mit bisher 70.000 Toten neben den USA das am schwersten betroffene Land der Welt (Stand 15. Juli). Die gravierenden Auswirkungen – die bereits im März absehbar waren – beeindrucken den Präsidenten wenig: „Wir werden dem Virus wie Männer gegenübertreten … Wir alle müssen irgendwann sterben.“ (Süddeutsche am 30. März). Das vor allem der indigene, schwarze und arme Teil der Bevölkerung von einem schweren und tödlichen Verlauf der Krankheit betroffen ist, passt zu seiner rechtsradikalen und neoliberalen Politik.
Auch die Situation in dem Amazonas-Gebieten hat sich im Schatten der Pandemie verschärft. Ende Mai berichtete Greenpeace darüber, dass jene Behörden, die für den Schutz der Wälder zuständig sind, illegale Rodungen nicht kontrollieren und verhindern konnten. So wurden seit Beginn des Jahres 120.000 Hektar Regenwald gerodet. Im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres sind die Abholzungen um 55 Prozent gestiegen. Das, obwohl 2019 bereits Negativrekorde bei den Regenwaldrodungen verzeichnete. Der Brasilien-Referent des WWF, Roberto Maldonado, spricht gegenüber scinexx von einer existenziellen Katastrophe: „2019 hatten wir die höchste Zerstörung seit zehn Jahren und nun deutet alles darauf hin, dass 2020 ein noch schlimmeres Jahr für den Regenwald wird. Erreichen wir nicht bald eine Trendumkehr, könnte der Amazonas langfristig verloren gehen.“ Des Weiteren schätzt der WWF, dass die Zerstörung von 20 bis 25 Prozent des Regenwaldes irreversibel sein könnte. Ein geringer Baumbestand würde somit nicht mehr ausreichen, um eigene Niederschläge zu erzeugen, was zur Austrocknung des Waldes und zur Bildung von Savannen führen wird.
Angesichts des internationalen Drucks verkündete die Bolsonaro-Regierung Ende Mai, dass sie von nun an illegale Waldrodungen mit dem Militär bekämpfen wolle. Der Versuch, diesen Konflikt militärisch zu lösen, ist mehr als fraglich, auch weil davon auszugehen ist, dass mit den Aktionen nicht die maßgeblich Verantwortlichen aus der Agrar- und Bergbauindustrie getroffen werden.
Aussagen aus dem Umweltministerium machen deutlich, dass die Regenwaldrodungen gar nicht gestoppt werden sollen. So berichtete der Focus am 26. Juni, dass der brasilianische Umweltminister Ricardo Sales bei einer Kabinettssitzung offen darüber sprach, die Umweltgesetze im Schatten der Corona-Krise zu deregulieren und so die wirtschaftliche Ausbeutung des Amazonas voranzutreiben.
Am 16. Juli unterschrieben der Umweltminister Salles und Präsident Bolsonaro überraschenderweise ein Dekret, in dem sie zusicherten, das Abbrennen von Flächen im Amazonas-Gebiet und im Pantanal für 120 Tage zu verbieten. Vorausgegangen war ein Appell von brasilianischen und internationalen Investoren, darunter auch Unternehmen, die bisher von den Rodungen profitierten. Wie zum Beispiel der Bergbaukonzern Vale und die Chemie- und Agrarkonzerne Cargil und Bayer.
Daniela Montalto von Greenpeace Brasil äußerte gegenüber der Tagesschau Zweifel an der Umsetzung des 120-Tage-Dekrets: „Die Umwelt zu überwachen, die Zerstörung zu stoppen und das Gesetz durchzusetzen – das Bolsonaro weiterhin systematisch demontiert – ist wesentlich.“
Dass die Rodung von Wäldern maßgeblich zum Klimawandel und zum Artensterben beiträgt, ist allseits bekannt.
Doch was bedeutet die massive Rodung des Amazonas-Regenwaldes innerhalb der Corona-Krise für die dort lebende indigene Bevölkerung?
Die Nichtregierungorganisation APIB (Organisation Indigener Völker Brasiliens) spricht davon, dass es in Brasilien heute 305 ethnische Gruppen mit einer Bevölkerung von 900.000 Menschen gibt. 12.048 Indigene aus 122 Völkern sind an Corona erkrankt. 445 von ihnen sind gestorben. Da ein großer Teil keinen Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem hat, werden viele Corona-Infektionen nicht erfasst, sodass davon auszugehen ist, dass die Dunkelziffer deutlich höher sein wird.
Besonders betroffen sind indigene Gemeinschaften, die in relativer Isolation zur restlichen Gesellschaft Brasiliens leben, sie gelten wegen ihres anfälligeren Immunsystems als besonders gefährdet. Hinzu kommt, dass die häufig weit entfernten Krankenhäuser wie in Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, aufgrund der hohen Zahl an Intensiv-Patient*innen und wenigen Intensivbetten vollkommen überlastet sind. Da das Corona-Virus neben den Besuchen von Angehörigen aus den Städten vor allem durch Goldgräber und Holzfäller in die Dörfer der Indigenen gelangt, erinnert die Situation an die düstere Kolonialgeschichte, in der europäische Besatzer einen großen Teil der indigenen Bevölkerung Amerikas systematisch mit eingeschleppten Krankheiten ermordeten.
Die mit der Fleischindustrie verbundenen Katastrophen spitzen sich durch die Corona-Krise zu, sie waren jedoch vorher bereits unerträglich. Wir als Bewegung stehen vor der Herausforderung, sie alle zu beleuchten und deren aktuellen Entwicklungen zu verfolgen und zu analysieren.
Text: Animal Climate Action
aus: Tierbefreiung 108 / September 2020
Beitragsbild: Ibama (Link)