Quo Vadis Vegan?

Quo Vadis Vegan?

Utopie und Potenzial des Veganismus jenseits des „Vegan Hypes“

Dass der Veganismus eine politische Haltung und Handlung darstellt, stellte sich für mich lange Zeit als nicht hinterfragenswert dar. Veganismus hatte seinen Platz fest in den Strukturen linker und autonomer Zen-tren und gehörte in dieser gesellschaftlichen Nische zum eigenen Selbstverständnis: Wer gegen Herrschaft sei, habe auch den Konsum von Tierprodukten abzulehnen. Diese Vorstellung änderte sich erst Ende 2011 mit meinem Besuch der ersten veganfach-Messe in Berlin. Beispielhaft war hier der Beginn eines „neuen“ Veganismus zu beobachten: Bio-Unternehmen, Rohkostlabels, Pulverfabrikantinnen, Showköche und die Vegane Gesellschaft präsentierten einen hip-pen Lebensstil, auch für Menschen jenseits politischer Subkultur. Diese Mischung be-geisterte in den letzten zwei, drei Jahren so viele (medienschaffende) Menschen, dass Veganismus mittlerweile „in“ ist. Doch was am Veganismus ist jetzt „out“, wenn die po-litische Motivation fehlt? Und welche Konsequenzen sind daraus für eine Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung zu ziehen?

Vor ziemlich genau fünf Jahren versuchte ich in der TIERBEFREIUNG darzulegen, dass Veganismus vielfach nur ein vorübergehendes Identitätsangebot für Jugendliche und junge Erwachsene darstellt – und dass er trotzdem das Potenzial enthält, über die bestehenden Verhältnisse hinauszuweisen. (1) Diesen Gedanken möchte ich im Spiegel der aktuellen Entwicklungen noch einmal aufgreifen.

Ich unterschied damals einen „identitären“ Veganismus und einen „utopischen“ Veganismus. Unter identitärem Veganismus verstehe ich noch immer eine Praxis, welche sich einzig über Ausschlüsse und Absichten definiert: Vegan ist, wer bestimmte Produkte konsumiert und andere meidet. Es zählen die Inhaltsstoffe, nicht die Produktionsver-hältnisse. Anders der utopische Veganismus. Dem ist der Veganismus zunächst einmal „nur“ ein Mittel zur Erreichung eines ge-sellschaftlichen Fernziels. Entsprechend wird hier das Mittel Veganismus auch dis-kutiert und verändert, wenn klar wird, dass das Ziel durch eine bestimmte Praxis nicht näher rückt. (2) Indem ich den Trend des der-zeitigen Lifestyle-Veganismus als logische Fortführung des identitären Veganismus kennzeichne, möchte ich versuchen, die darin fehlenden utopischen Momente des Veganismus darzustellen und für einen ver-änderten strategischen Umgang nutzbar zu machen.

Veganismus als Lifestyle-Trend und Absatzmarkt

Mag die Idee und konsequente Praxis des Veganismus auch schon wesentlich älter sein, in ihrer (post-)modernen Form ist sie ein Kind der Tierrechtsbewegung – und des individuellen Konsumstils. Der Kampf für Tierrechte/Tierbefreiung mag sich konsti-tutiv im veganen Lebensstil äußern, um-gekehrt muss der vegane Lebensstil kein Eintreten für Tierrechte nach sich ziehen. Entsprechend problemlos vereinnahmt der Kapitalismus den veganen Konsum, wie so viele Lebensstile zuvor. Der „neue“ hippe und verspielte Lifestyle-Veganismus artiku-liert an seinen Rändern zwar noch politische Botschaften, erzeugt aber nur noch ein dif-fuses Gefühl davon, dass es nicht nur für die konsumierende Person besser ist, vegan zu leben. Es geht zwar auch um die Vorteile für Menschen, Tiere und die Umwelt, viel zen-traler sind aber Begriffe wie Lebensqualität, Gesundheit, Jugend und Vitalität: Themen, die gemeinhin mit dem Begriff „LOHAS“ (Lifestyle of Health and Sustainability) verbunden sind. Die starke Fixierung auf käufliche Waren und den Veganismus als Ernährungsform aktualisiert (m)eine alte Frage: Erschöpft sich das Potenzial des Veganismus nicht bereits in den Regalen der Discounter, Super- und Biomärkte, wenn es dort doch immer neue, schönere Produkte für den täglichen Bedarf gibt?

Selbstredend ist es schön, wenn Menschen sich für eine vegane Lebensweise entscheiden. Aber haben sie dadurch unbedingt einen anderen Blick auf Tiere?

So wirklich neu ist diese Kritik an der Individualisierung und Entpolitisierung von Konsumentscheidungen nicht. Neu ist aber, dass der Widerspruch zwischen Produzentin/ Herstellung und Produkt nun auch lesbar wird. Siegel und Werbeversprechen rühmen Produkte offensiv als „vegan“. Daran sind zumindest drei Tendenzen besorgniserregend:

  1. Direkte Unterstützung von Fleisch-konzernen: Eine Produktlinie wird als vegan deklariert, selbst wenn sie von Vion, dem größten Konzern für Schweine,fleisch‘verarbeitung Europas, hergestellt wird. (3)
  2. Zweifelhafte Produktentwicklungen: Ein Produkt wird als vegan deklariert, selbst wenn es durch künstliche Aromen, Zusätze und Konservierungsstoffe mehr mit Lebensmittelchemie als mit einem Lebensmittel zu tun hat
  3. Die unkritische Verknüpfung zum Bio-Boom: Ein Produkt wird auch als vegan deklariert, obwohl es aus bio-dynamischem Demeter-Anbau kommt – und dieser die Tierhaltung im eigenen Betrieb zwingend vorschreibt. (4)

Der Markt saugt den veganen Trend auf und regt kleine, idealistische(re) Bio-Firmen ge-nauso wie große Lebensmittelkonzerne dazu an, ihrer Produktion neue vegane Kre-ationen hinzuzufügen und entsprechend zu vermarkten. Es versteht sich von selbst, dass der Hauptumsatz bei letzteren liegt. Ver-bleibt der Veganismus also stur innerhalb des „Nur die Zutaten zählen“-Musters der Auswahl aus einem großen Warenangebot, verschafft er vorrangig den etablierten An-bieterinnen neue Absatzmärkte. Erreicht wird aber keine grundsätzliche Umstellung des Marktes oder gar der tierfeindlichen Produktionsweise. Dass kein einfacher kausaler Zusammenhang zwischen einer steigenden Anzahl an Veganerinnen und einer verringerten Tierprodukterzeugung zu erwarten ist, wurde bereits am Beispiel der Vegetarierinnen festgestellt. Deren Anteil an der Bevölkerung stieg jahrelang an – ohne direkten Einfluss auf die Produktion von ,Fleisch‘. (5)

Selbstredend ist es schön, wenn Menschen sich für eine vegane Lebensweise entscheiden. Aber haben sie dadurch unbedingt einen anderen Blick auf Tiere? Immerhin führt der Weg zum Veganismus häufig nicht mehr über das politische Umfeld oder einen empathischen Impuls gegenüber nicht-menschlichen Tieren – und damit gleichzetig über die Überzeugungen der Tierrechts- / Tierbefreiungsbewegung. Stattdessen haben sich in den letzten Jahren vermehrt Veganismen herausgebildet, in denen das Leben und Sterben der Tiere nur eine untergeordnete Rolle spielt. Das beginnt mit dem Argument der besseren Klimabilanz und dem grünen Image des Veganismus und endet bei Anrufungen zur Selbstoptimierung an die Individuen mit (vermeintlich) leichter(er) Kost für Gesundheit, Fitness, Jugend und (Norm-)Gewicht. Wie kann nun eine Tierrechts-/ Tierbefreiungsbewegung auf diese „Entpolitisierung“ beziehungsweise Verschiebung des Fokus reagieren?

Die Utopie der veganen Lebensweise

Auch die Praxis eines politischen – und utopischen – Veganismus hat einen Teil ihrer Wurzeln in individualisierenden ethischen Überlegungen. Demzufolge sei Tierausbeutung abzulehnen. Und wenn ich keine Tierprodukte esse, bin ich kein Teil dieser Ausbeutung. Steht der einzelne Mensch als ethisches Wesen im Mittelpunkt, kann der Nicht-Konsum von (offensichtlichen) Tierprodukten durchaus sinnstiftend und im Sinne einer klassisch-liberalen Ethik des guten, tugendhaften Lebens sein. Weil diese individuelle Herangehensweise jedoch leicht in die herrschenden ökonomischen Strukturen integriert werden kann, birgt sie politisch kaum Sprengkraft. Deshalb ist der Veganismus für die politische Praxis der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung auch nur ein Baustein innerhalb eines weiten Spektrums an Aktionen und Bemü-hungen. Es ist zwar kein unwichtiger und oftmals der identitätsprägendste, weil persönlichste Baustein, aber er gehört fest zu einer kollektiven Strategie der Angriffe auf die Tierausbeutung.

Für die Nachhaltigkeit dieser Bemühungen bedarf es der notwendigen Infrastruktur. Einst gründete der Internationale Sozialistische Kampfbund vegetarische Gaststätten, um seinen politischen Kampf gegen den deutschen Faschismus zu finanzieren. Zumindest in einigen Großstädten existiert derzeit eine solche Infrastruktur im veganen Bereich und unterstützt die Bewegung und ihre Projekte. Was jedoch in weiten Teilen fehlt, ist ein breites Bewusstsein für die Problematik einer tierfreundlichen Lebensmittelproduktion. So weist die Antispe Tübingenrichtigerweise darauf hin, dass letztendlich die Lebensmittelindustrie vergesellschaftet und veganisiert werden müsste, (6) es bedarf jedoch gerade – im wahrsten Sinne des Wortes – an der Wurzel des Problems noch weiterer Schritte. So gibt es nur einige wenige Projekte, die einen bio-veganen Anbau vorantreiben. (7) Solche Projekte auf-zubauen, zu unterstützen und am Leben zu erhalten, Wissen zu sammeln, zu kultivieren und weiterzugeben, ist notwendig für einen utopischen Veganismus, welcher nicht nur auf Konsumentinnen-, sondern auch auf Produzentinnenseite die Möglichkeit eines veganen Lebens nachweisen will.

Auch die konkreten Mensch-Tier-Beziehungen fließen in diesen utopischen Veganismus ein. Der Bewegung sind die Tiere nicht so fremd, wie einem Veganismus, der sich primär in deren Nicht-Konsum erschöpft. Die Befreiung von Tieren aus den Tierindustrien und ihre Versorgung auf Lebenshöfen sowie auch der Umgang mit den Lebewesen im Umfeld des bio-veganen Landbaus zeigen ein anderes Mensch-Tier-Verhältnis, andere Beziehungen zu Tieren auf, die nicht auf Gewalt und vordefinierter Hierarchie fußen. Der Veganismus als Teil dieser Praktiken ist mehr als nur ein bestimmter Konsum. Er ist Teil dieser umfassenden Anerkennung von nichtmenschlichen Tieren als Individuen: Jedes Tier hat als Individuum Bedürfnisse, auch in einem anonymisierenden Ausbeutungssystem. Das wird u.a. spürbar im Umgang mit geretteten Tieren und ihren individuellen Charakteren oder den komplexen praktischen Überle-gungen eines tierschonenden Lebensmittelanbaus. Dies sind direkt erfahrbare Momente der Mitarbeit an einer Utopie. Ein wie viel stärkeres Symbol ist ein solcher utopischer Veganismus, der sich seinen eigenen Ort aus der Utopie (hier auch wörtlich: ou-topos, also Nicht-Ort) schafft? (8)

Fernab von Widersprüchen in der Nahrungsmittelproduktion und der Gewissheit darüber, dass ein hundertprozentiger Veganismus im Bestehenden nicht möglich sein wird, gilt es, die Orte der Utopie zu ermöglichen, zu unterstützen und weiterzuentwickeln. Einem verflachten Verständnis von Veganismus kann die Tierrechtsbewegung die Vision von tiersolidarischen Anbau- und Lebensorten entgegensetzen. Die kompromisslose Einwirkung auf die tierausbeutenden Industrien ist wichtig, aber sie kann die Gewalt gegen Tiere nur zurückweisen. Hoffnungen auf einen grundlegenden Wandel benötigen darüberhinaus die Erprobung neuer Beziehungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren. Versuche der bio-veganen Lebensmittelproduktion und befreite Tiere, deren Zukunftsperspektive nun ein Lebens- und kein Schlachthof ist, weisen über die gewalt- und herrschaftsförmige Gegenwart hinaus. Eine mögliche Antwort der Tierbefreiungsbewegung auf den Vegan Hype ist es, diese starken utopischen Aspekte des Veganismus wieder verstärkt zu thematisieren.

Text: Markus Kurth
aus: Tierbefreiung 84 / Oktober 2014 /
Titelthema: Politischer Veganismus und Lifestyle-Veganismus (pdf öffnen)
Beitragsbild: von Milan De Clercq / Unsplash

 

[1] „Ich mal mir eine neue Welt“, in: TIERBEFREIUNG 64.
[2] Lebensweisen wie Freeganismus (Warenbeschaffung jen-seits kapitalistischer Verkaufslogik, z.B. Containern), kollektive Praktiken wie Foodcoops (Lebensmitteleinkaufsgemein-schaften direkt bei den Erzeugerinnen) oder die Kopplung der individuellen veganen Kaufentscheidung an eine ökologische und faire Erzeugung der Lebensmittel mögen einige Reaktionen auf die unzureichende Basis-Definition der veganen Lebens-weise sein.
[3] Gemeint ist die Marke „Vegetaria“. Auf diesen Zusammen-hang macht die Antispeziesistische Aktion Tübingen aufmerk-sam: www.asatue.blogsport.de/2014/03/22.
[4] Ein besonders augenfälliges Beispiel ist die kürzliche Verleihung des Vegan-Siegels des VEBU an die Säfte der Marke Voelkel, deren Grundlage Demeter-Erzeugnisse bilden:www.demeter.de/verbraucher/aktuell/voelkel_saefte_jetzt_vegan_zertifiziert.
[5] Dazu genügt ein Blick in den aktuellen Fleischatlas des BUND (z.B. Seite 20f.): www.bund.net/fleischatlas.
[6] Siehe Text der Fußnote 3, Abschnitt „Fazit für dieBewegung“.
[7] Siehe Titelthema der TIERBEFREIUNG 82.
[8] Damit soll nicht relativiert werden, dass auch andere poli-tische Aktionen derart prägende Erfahrungen liefern können, aber die Orte, die sie schaffen, sind vorrangig Orte des Wider-standes und keine Erprobungen eines neuen mensch-tierlichen Zusammenlebens. Utopisches Potenzial wird hier eher für ein menschliches Zusammenleben freigesetzt, wie z.B. bei Aktions-Camps oder längeren Besetzungen.