Was können Kunst und Kultur?

Was können Kunst und Kultur?

„Kunst ist ein frei gestaltbares, bewertbares und vielseitig verwendbares Medium, zur individuellen und gesellschaftlichen Unterhaltung und Selbstdarstellung sowie zur ideellen und materiellen Bereicherung.“[1]

Wir sind ständig von Kunst und Kultur umgeben. Wir hören Musik, schauen uns Bilder und Filme an, lesen Bücher oder gehen ins Museum, Theater und in Ausstellungen. Vieles davon hat unsere Sichtweise auf die Welt beeinflusst, neue Ideen und Horizonte eröffnet, uns provoziert Bekanntes zu hinterfragen, Unbekanntes besser zu verstehen oder einfach nur unsere Emotionen klar zu spüren.

Kunst und Kultur können und werden aus diesen Gründen auch als politische Mittel eingesetzt. Das ist nicht nur positiv besetzt: Sie werden von Rechten und Konservativen für ihre Propagandazwecke genutzt, können vom Wichtigen und Wesentlichen ablenken, sind Statussymbol oder werden genutzt, um andere auszugrenzen oder abzuwerten. Sie können aber auch inklusiv wirken, Utopien sicht-, greif- oder fühlbar machen, emanzipatorische Debatten anstoßen oder ein Gemeinschaftsgefühl einer politischen Bewegung erzeugen.

Nicht umsonst wurden ganze Bibliotheken und Server mit Publikationen gefüllt, die sich mit Kunst und Kultur beschäftigen. Was diese sind? Wie sie sich definieren lassen? Was sie auslösen? Wie sie gemacht werden müssten? Wie politisch sie sein muss? Und und und… Das Themenfeld ist sehr komplex. Außerdem ist die Wahrnehmung doch immer wieder sehr subjektiv, beispielsweise kann ein und dasselbe Kunstwerk bei den Betrachter*innen sehr unterschiedliche Emotionen auslösen. Daher muss dieser Beitrag oberflächlich bleiben und ist geprägt von unseren ganz subjektiven Perspektiven auf Kunst und Kultur.

Die Schwierigkeit von Begriffen

Wir sind ständig umgeben von Kunst und Kultur. Aber was bedeuten diese Begriffe eigentlich und was haben sie mit dem Thema Mensch-Tier-Verhältnisse zu tun? Viele Künstler*innen und Philosoph*innen haben bereits versucht zu definieren, was Kunst in ihren Augen ist. Johann Wolfgang von Goethe sagte beispielsweise: „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen“ und für Leonardo da Vinci ist „Kunst […] die Königin aller Wissenschaften, die zu allen Generationen der Welt spricht.“ Bekannt ist Friedrich Nietzsches Aussage: „Kunst kommt von Können. Käme es von Wollen, so hieße es Wulst.“ Laut Wikipedia wurde Kunst anfänglich in bildende (gestaltende) und darstellende Kunst unterschieden. „Zu den Kunstgattungen der bildenden Kunst zählten ursprünglich die Baukunst, Bildhauerei, Malerei, Zeichnung, Grafik und Fotografie sowie das Kunsthandwerk.“[2] Zu den darstellenden Künsten zählen Theater, Tanz und Filmkunst. Des Weiteren gibt es noch die Kunstgattungen Literatur und Musik, die weder zu den bildenden noch darstellenden Kunstformen gezählt werden.

Kultur wird im Duden als die „Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung“[3] bezeichnet. Kultur beinhaltet also künstlerische Betätigungen, Kunst zeichnet eine Kultur deutlicher, zeigt auf, was die Themen, Inhalte, Regeln und Leistungen der Gemeinschaft sind. Das gilt auch in besonderer Weise für sogenannte Subkulturen, wie beispielsweise der Punkbewegung, die unter anderem eigene Musik, Tanz und Filme geschaffen hat und auch auf Kunstformen der allgemeinen Gesellschaft Einfluss hat. Kunst und Kultur verdeutlichen die sie umgebende Welt und nehmen gleichzeitig Einfluss auf sie.

Und das ist die Chance, die wir als Tierbefreiungsbewegung nutzen können. Das aktuelle Mensch-Tier-Verhältnis findet bereits in vielen Kunstgattungen Beachtung und bietet somit die Möglichkeit, es zu hinterfragen und zu verändern.

Das Aktuelle darstellen und dokumentieren

Kunst und Kultur können unsere Lebensrealitäten beschreiben, sie können darstellen und dokumentieren, was passiert. Dabei können ‚schöne‘ beziehungsweise ‚gute‘ Inhalte dargestellt werden, beispielsweise in einem Dokumentarfilm oder auf einer Landschaftsmalerei. Es können aber auch andere Realitäten abgebildet werden und das in unterschiedlichsten Formaten. So beispielsweise die vorherrschenden und historisch gewachsenen Mensch-Tier-Verhältnisse und die mit ihnen verbundenen Ausbeutungsverhältnisse. Damit ähneln Formate, die diese zum Teil grausamen Realitäten aufgreifen, Aktionen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung.

Eine Möglichkeit der künstlerischen Verarbeitung von Mensch-Tier-Verhältnissen beziehungsweise der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung selbst kann in Romanen geschehen. Beispielhaft dafür kann einerseits der Roman „Feuerfieber“ von Hilal Sezgin genannt werden. Hier stehen Aktivist*innen der Tierrechtsbewegung, gemeinsam mit einem Drachen, im Mittelpunkt der Geschichte. Im Roman wird sowohl auf den Umgang mit nichtmenschlichen Tieren, als auch auf die Arbeit für die Befreiung der Tiere thematisiert.[4] Andererseits ist der Roman „Tierreich“ von Jean-Baptiste Del Amo zu nennen. Der historische Roman hat die Entwicklung der Tierhaltung von kleinbäuerlichen Strukturen hin zu industrialisierter Intensivtierhaltung zum Thema. Erzählt wird dies anhand einer Familiengeschichte und stellt sowohl die historischen Entwicklungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingen als auch der Mensch-Tier-Verhältnisse dar.[5] Eine weitere, relativ moderne Form der Darstellung, die Texte und Bilder miteinander verbindet, sind Graphic Novels. Diese können grob als Comics für Erwachsene in Buchform definiert werden.[6] Für die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung kann hier die Graphic Novell „Tierethik“ genannt werden. In Form eines Comics stellen Julia Kockel und Oliver Hahn verschiedenste tierethische Fragen und stellen damit den aktuellen Stand der tierethischen Debatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dar.[7] Die Malerei bietet ebenfalls die Möglichkeit den „Status Quo“ abzubilden. Die frühen Werke von Hartmut Kiewert, die auf seiner Webseite unter „Status Quo“ zu finden sind, versuchen genau dies zu leisten und können als Dokumentation bestehender Mensch-Tier-Verhältnisse verstanden werden.[8] Im Buch „Galerie des Entsetzens“, welches neben den Gedichten von Tobias Hainer, Zeichnungen von Chris Moser beinhaltet, werden vor allem mit den Zeichnungen die aktuellen Verhältnisse aufgezeigt.[9] Auch auf der Theaterbühne gab es bereits Versuche einzelne Mensch-Tier-Verhältnisse zu thematisieren. So steht die Fleischindustrie um 1900 in Chicago im Mittelpunkt des Dramas „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Berthold Brecht.[10] Dem Drama zugrunde liegt unter anderem der Roman „Der Dschungel“ von Upton Sinclair [11], genau von diesem Roman inspiriert wiederum entstand ein Graphic Novell.[12] Mit Die Bühne der Vergessenen gibt es eine aktuellere Theatergruppe, die sich auch den Mensch-Tier-Verhältnissen widmet. In ihrer Produktion „Irre ist menschlich“ widmen sich die Theaterschaffenden dem Thema Tierversuche. Ein Film des Stückes ist auf der Webseite der Gruppe zu finden.[13] Realitäten darstellen ist auch einer der zentralen Ansprüche von Dokumentationsfilmen. Über die ausbeuterischen Verhältnisse innerhalb des tierindustriellen Komplexes oder auch die vegane Lebensweise liegen solche mittlerweile in unzähliger Form vor. Sie hier aufzuzählen würde den Rahmen sprengen. Neben bewegten Bildern kann auch ein Foto die aktuelle Situation dokumentieren. Im Bereich der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung sind Fotos häufiges Medium. Beispiele für die Arbeit mit Fotografie bietet die Plattform We Animals Media. Hier werden Aktivist*innen Fotos für ihre Aktivitäten zur Verfügung gestellt, außerdem werden die Fotos von den Produzierenden bei Wettbewerben eingereicht. Eine der Gründer*innen, Jo-Anne McArthur, hat für diese Form des Aktivismus beziehungsweise Fotojournalismus den Begriff animal photojournalism geprägt, um es von unpolitischer Tierfotografie abzugrenzen.[14] Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt von Möglichkeiten, die aus den Bereichen der Kunst und Kultur stammen, um die aktuellen Mensch-Tier-Verhältnisse darzustellen oder zu dokumentieren. Kunst kann aber nicht nur dokumentieren, sondern vielmehr kann sie auch neue Ideen vermitteln.

Neue Ideen vermitteln

Kunst kann aktuelle Gesellschaftsdebatten und -formationen kritisch oder auch unkritisch thematisieren. Sie kann aber auch weitergehen. Utopien können greifbarer gemacht werden, indem Künstler*innen sie ausdrücken, auf ihre je eigene Art und Weise.

In Gemälden können andere und neue Welten gezeigt werden, wie beispielweise in der Kunst von Hartmut Kiewert, der das utopische Zusammenleben von Menschen und anderen Tieren malt. Auch filmisch oder auf Theaterbühnen können andere Werte und Formen des Zusammenlebens aufgezeigt werden. Aktuelles Beispiel sind die Dokumentationsfilme von Marc Pierschel, wie über den Kuhlebenshof Hof Butenland oder die Vorstellung einer Welt ohne Fleisch The End of Meat. Und nicht nur Künstler*innen mit Tierbefreiungshintergrund kritisieren den Umgang mit nichtmenschlichen Tieren und zeigen einen anderen Weg des Umgangs auf. Bereits Anfang der 1990er Jahre erschien der Film „Free Willy“, der die Gefangenschaft eines Orcas in einem Vergnügungspark zeigte und dessen schlussendliche Befreiung. Insbesondere Kinderfilme drehen sich um solche Themen, wie beispielsweise „Ein Schweinchen namens Babe“ (1995), „Findet Nemo“ (2003) oder „Okja“ (2017). Leider oft noch ohne nennenswerte Veränderungen für die Tiere, die in den Filmen „mitspielten“, in der realen Welt. Häufig führen diese, als Kritik gedachten Filme sogar dazu, dass die im Film dargestellten Tiere nach der Veröffentlichung des jeweiligen Filmes von den Filmschauenden vermehrt als Ware gekauft werden. Dies passierte beispielsweise nach der Veröffentlichung von „101 Dalmatiner“ (1961) oder „Findet Nemo“.[15] Doch manchmal kommt es nach solchen Filmen zum Umdenken, wie bei „Ein Schweinchen namens Babe“. Der Schauspieler James Cromwell, der Babes Besitzer Arthur Hogget spielte, wurde durch den Film vegan. „Nicht nur ihn brachte der Film zum Nachdenken: Nach Erscheinen des Films 1995 sank der Schweinefleisch-Konsum in den USA merklich.“ Vor allem viele Kinder wurden zu Vegetarier*innen.[16]

Auch „Theater eröffnet neue Perspektiven und Reflexionsfläche für Veränderungen und Absurditäten“.[17] Der bereits erwähnte B. Brecht beispielsweise versuchte nicht inhaltlich neue Ideen zu vermitteln. Vielmehr versuchte er das ganze Format des Theaters zu verändern. Mit dem sogenannten epischen Theater wurden zwei literarische Formate miteinander verbunden. Damit einhergehend wurde ebenfalls versucht, nicht die tragische Geschichte einer einzelnen Person zu erzählen. Vielmehr sollten die großen gesellschaftlichen Konflikte thematisiert werden.[18] Immer wieder blitzen jedoch bereits in den Stücken Brechts und weiteren Vertreter*innen des „epischen Theaters“ erste Vorbot*innen einer befreiten – im Sinne Brechts klassenlosen – Gesellschaft auf. Auch „Irre ist menschlich“ der Bühne der Vergessenen deutet, durch die Kritik an bestehenden Verhältnissen, auf eine andere Gesellschaft hin. In diesem Beispiel ist es die Idee, dass für die Forschung keine Versuche an nichtmenschlichen Tieren mehr durchgeführt werden sollen. Theater muss aber nicht nur auf der Bühne stattfinden. Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung nutzte und nutzt das Medium des Theaterstückes auch für die Vermittlung. Auch diese Stücke, selbst wenn sie in ihrer Mehrheit auf bestehende Verhältnisse verweisen, können nicht nur dokumentieren, sondern den Betrachter*innen neue Ideen vermitteln. Beispielsweise wenn ein „Alien“ einen Menschen schlachtet. Die Betrachter*innen könnten sich die Frage stellen: Wenn „Aliens“ die Macht hätten uns als Menschen zu Waren zu machen und uns zu essen, warum sollte es dann gerechtfertigt sein, wenn wir es mit anderen Tieren genauso machen.[19] Neue Ideen kann Kunst aber auch liefern für die politische Arbeit der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung. Eine Kritik von Künstler*innen beziehungsweise ein kritisches Hinterfragen beispielsweise der Aktionsformen kann der Selbstreflektion der Bewegungen dienen. Beispielhaft dafür scheint eine Performance von Hörner/Antlfinger zu sein. In der Form von zwei Hasen sprechen sie über verschiedenste Themen rund um die Mensch-Tier-Verhältnisse. Sie thematisieren aber auch die Arbeit von Tierschutz- und Tierrechtsaktivist*innen und stellen diese, mit den (imaginierten) Blickwinkeln von Hasen, kritisch vor.[20] Auch Hartmut Kiewert bringt eine neue Idee für die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung auf. Auf die Frage, ob Kunst auch Tierbefreiung kann, antwortete er mit der Gegenfrage: „Könnten sich also direkte Aktionen [zum Beispiel Tierbefreiungen] als Performances verstehen, die sich auf die juristische Kunstfreiheit berufen, beziehungsweise wäre hierdurch zumindest partiell so etwas wie die Aufhebung der Kunst in gesellschaftlicher Praxis möglich?“[21] Es bleibt abzuwarten, welche neuen Ideen Künstler*innen an die Tierbefreiungsbewegung herantragen werden und welche Ideen Tierbefreiungskünstler*innen in die gesellschaftlichen Debatten um die Mensch-Tier-Verhältnisse einbringen.

Gemeinschaft erzeugen

Über gemeinsam erlebte Kultur entsteht eine Bindung zwischen Menschen. Sie haben zusammen gelacht oder geweint, gesungen, sich ausgetauscht über ihre verschiedenen oder gleichen Interpretationen oder Emotionen zu dem Erlebten und Gesehenen. Der gleiche Musikgeschmack zum Beispiel kann ungemein verbinden und ermöglicht es, zusammen noch mehr davon zu erleben, indem man tanzen oder auf Konzerte geht. Dasselbe gilt auch für andere Kunst- und Kulturformen. Kunst und Kultur sind immer Teil von Subkulturen und schaffen ein Zugehörigkeitsgefühl. Diese Subkulturen gehen dann weit über den gemeinsamen Musikgeschmack hinaus. Netzwerke von Personen bilden sich aus, Infrastruktur wird geschaffen und das Gefühl einer Gemeinschaft wächst. Für die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung ist hier vor allem die Hardcoreszene zu nennen. Musikalisch verwandt dem Punk, zeichnete sich die Hardcoreszene lange dadurch aus, dass sie vom Do-It-Yourself (DIY)-Anspruch geprägt war. Konzerte wurden selbst veranstaltet, Platten und Tapes selbst aufgenommen und produziert, die Cover wurden selbst gestaltet, genau wie T-Shirts oder auch Beutel oder Aufnäher. Auch die Versorgung der Bands und Konzertbesucher*innen wurde selbst organisiert. Neben der kritischen Thematisierung der Tierhaltung durch die Bands, die zum Teil Infoflyer auf ihren Merchandiseständen verbreiteten, wurde den Bands und Besucher*innen häufig veganes Essen angeboten.[22] Dies natürlich auch mit DIY-Background und oft im Stile einer sogenannten Volxküche (Vokü) (heute meist „Küche für Alle“ (KüFa) genannt). Für die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung beziehungsweise für die vegane Szene war die Hardcorszene, vor allem in den 1990er Jahren ein Mobilisierungsmilieu.[23] Durch den DIY-Charakter der Hardcoreszene wurde außerdem ein erster Ansatz für vegane Infrastruktur und Netzwerke – vor allem im linksradikalen Milieu – geschaffen. Durch diesen Auf- und Ausbau der Netzwerke, die gemeinsamen Erfahrungen bei der Organisation und Durchführung von Veranstaltungen, entstand ein Gemeinschaftsgefühl unter vegan lebenden Menschen innerhalb der Hardcoreszene (und darüber hinaus).

Dieses Gemeinschaftsgefühl ist für Menschen von großer Bedeutung. „Es ist uns unmöglich, unsere geistige Abhängigkeit vom Gemeinschaftsgefühl zu verleugnen. Es gibt keinen Menschen, der imstande wäre, ernstlich jedes Gemeinschaftsgefühl für sich in Abrede zu stellen.“{24] Das bedeutet nicht, dass immer im Sinne der Gemeinschaft gehandelt wird, aber es bedarf einer gewissen Kraftanstrengung, eine Handlung auszuführen, die ganz klar gegen die allgemeingültigen Regeln verstößt und somit gegen das Gemeinschaftsgefühl. Als Aktivist*in der Tierbefreiungsbewegung fällt es beispielsweise sicher nicht leicht, etwas Unveganes zu essen, auch wenn es in Ausnahmesituationen nachvollziehbare Gründe dafür gibt.

Gefühle hervorrufen

„Musik findet immer einen direkten Zugang zu unseren Gefühlen“[17], sei es über die Melodien oder Texte. Die Verbindung von politischem Aktivismus und Musik ist in allen Generationen deutlich, seien es die Hippie- und Antikriegsbewegung und die dazugehörige Musik oder, aktueller, die Musikrichtung Hardcore und die Tierrechtsbewegung. Die Wut über die Ungerechtigkeiten in der Welt und eine Möglichkeit, sie herauszuschreien und ein Ventil zu haben oder Liebe und den Wunsch nach Frieden in Liedern zu spüren und zu singen; beides ist wichtig und bringt uns in Kontakt mit unseren Gefühlen und hilft uns, sie zu spüren und auszuleben. Das gilt natürlich auch für all die anderen Gefühle. Die Welt um uns herum, so wie sie von Künstler*innen dargestellt wird und in uns Emotionen auslöst, ist gleichzeitig auch das Produkt der Emotionen der Künstler*innen selbst. Im Rahmen der Kunst sind sie dabei, ihren Emotionen, egal ob negativen oder positiven, freien Raum zu lassen. So wird beispielsweise in einigen Plastiken und Skulpturen von Chris Moser deutlich, dass er eine große Abneigung gegen die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt hat. Die Wut auf das ausbeuterische System des Kapitalismus, welches Menschen und Tiere zur Ware macht, wird stark verdeutlicht. Damit können solche Werke auch den Betrachter*innen helfen, eine Möglichkeit zu finden ihre eigene Wut in einem Kunstwerk gespiegelt zu bekommen. Aber auch das Gefühl der eigenen Stärke kann in Kunstwerken ausgedrückt werden. Das Bild quiet now, welches sich unter anderem auf Taschen oder Magneten finden lässt, von Sarah H. zeigt beispielsweise eine Situation, bei der eine weiblich gelesene Person einen Fuchs und einen Dachs mit ihren Händen umarmt und zu ihnen sagt „quiet now“. Im Hintergrund des Bildes sind Jäger*innen zu sehen, welche Fuchs und Dachs töten wollen. Die imaginierte Rettungsaktion kann sich im Kunstwerk ausformen und das Gefühl der ‚Stärke‘ der Aktivistin* kann auf die Betrachter*innen überspringen. Diese Situation kann in dieser Form nur in der Vorstellung von Künstler*innen entstehen, löst jedoch möglicherweise positive Gefühle der Betrachtenden aus.

Ein weiteres, wichtiges Gefühl, das es gilt hervorzurufen, ist die Empathie. Wenn eine Kunstform es schafft, in Menschen Mitgefühl für ausgebeutete Mitlebewesen zu wecken, besteht die Möglichkeit, dass diese die Ausbeutung nicht länger unterstützen und sogar dafür kämpfen, sie zu beenden. Für viele Aktivist*innen war das Mitgefühl für andere Tiere der Ausgangspunkt für ihr Engagement. Lebenshöfe, als Teil der Tierbefreiungsbewegung, bieten die Möglichkeit Empathie mit nichtmenschlichen Tieren auf einer neuen Ebene zu konstruieren. Somit können sie als Kultureinrichtungen verstanden werden, die im hier und jetzt bereits auf eine Gesellschaft verweisen, in der die Empathie mit anderen Menschen und Tieren alltägliche Praxis ist. Diesen Ausblick liefern Lebenshöfe über unterschiedlichste Medien. Beispielsweise erzählen sie die Geschichten der individuellen Tiere und ermöglichen damit ein Hineinfühlen in ein einzelnes nichtmenschliches Tier*. Diese Geschichten provozieren nahezu, dass sich die Lesenden oder Betrachtenden der Videos und Fotos empathisch mit den vorgestellten tierlichen Individuen verbinden.[25]

Provokation

Kunst kann uns mit uns selbst konfrontieren, indem sie uns in unangenehme Situationen bringt, uns einen Spiegel vorsetzt oder übersteigert und fast schmerzhaft die Realität aufzeigt, in der wir leben. „Künstlerinnen und Künstler schauen sich die innere und äußere Welt also entdeckend, erforschend und mit eigenen Mitteln erfassend an. Sie nehmen ihre Mitwelt mit besonderer Deutlichkeit wahr. Sie durchbrechen Gewohnheiten, zum Beispiel Sehgewohnheiten, sie stören diese manchmal auch ganz bewusst.“[26] In der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung wird dies beispielsweise mit Aktionen, Fotos, Videos und Büchern umgesetzt, in denen ein Mensch anstelle eines Tieres ist und eingesperrt im Käfig sitzt oder als Fleischstück in einer Schale liegt. Eine weitere Provokation kann sein, dass Menschen aus Industrienationen im Supermarkt ein Stück Fleisch kaufen wollen und das noch lebende Tier dafür aussuchen sollen. Sie werden damit mit der grausamen Realität konfrontiert, die sonst so leicht ignoriert werden kann. Solche Formate werden oft von Comedy-Kanälen gemacht und die meisten Menschen reagieren verstört und ablehnend und wollen das lebende Tier, in diesem Fall eben ein Individuum und keine gesichtslose Masse, vor der Schlachtung bewahren. Ein Beispiel ist das Video „Brazilian Prank: Sausages“ auf YouTube. Diese Verfremdungen können künstlerisch auch genutzt werden, um satirisch Aussagen aufzugreifen. „So haben wir das schon immer gemacht“ – ist nicht nur eine Aussage, die wahrscheinlich alle Tierbefreiungsaktivist*innen schon einmal gehört haben, sondern auch der Titel eines Bilderbuches aus dem Jahr 2020. Carolin Günther setzt dabei „Fleisch“ in Kontexte, die kurzum beschrieben mit „Fleisch wächst auf Bäumen“ zusammengefasst werden. Dadurch möchte die Künstlerin einen Prozess anregen, bei dem die Betrachtenden ihre moralische Entscheidung Tiere zu essen hinterfragen sollen.[27] Nicht satirisch sind die Werke, vor allem die Plastiken, von Chris Moser. Auch sie sollen die Betrachter*innen provozieren und dadurch zum Nachdenken über menschgemachtes Unrecht anregen.[28] Sie dienen aber auch dazu, die politische Brisanz der angesprochenen Themen aufzubringen und eine Debatte und Veränderung anzustoßen.

Politisch

„Kunst vermag außerdem Themen wie beispielsweise Armut, Flucht, unterschiedliche Religionen und weitere Themen […] zu zentrieren und zur Diskussion zu stellen, indem sie sie in den Fokus der Wahrnehmung setzt, verdichtet, überhöht und in neue oder historische Zusammenhänge stellt. Sie kann politisches Mittel sein, kann Menschen aktivieren zu handeln und ihre Lebensrealitäten zu verändern und Vorurteile abzubauen.“[26] Mit, auch manchmal provokativ gestalteten Kunstwerken, soll die Gesellschaft verändert und auch die aktuelle Politik mitbestimmt werden. Dabei geht es bei politischer Kunst nicht nur darum, die eigene Unzufriedenheit auszudrücken, sondern auch um ein Festhalten von und Erinnern an wichtige politische Ereignisse.

„In der westlichen zeitgenössischen Kunst kommt es heute eher selten vor, dass Künstler zu deutlichen oder gar drastischen Mitteln greifen, um politische, gesellschaftskritische Probleme zu thematisieren und anzuprangern.“[29] In der restlichen Welt sähe das jedoch anders aus, da dort ein kritisches Aufzeigen und Einschreiten teilweise dringlicher sei als bei uns. Dabei kann Kunst deutlich, ironisch, humorvoll oder subtil sein. Eine Möglichkeit, wie jede*r politisch künstlerisch agieren kann, wird schon lange genutzt. Die Street-Art-Szene schafft optische Kunstwerke und kritische Aussagen. Nach dem Mord an George Floyd am 25. Mai 2020 in den USA durch einen Polizisten sind in vielen Teilen der Welt Graffitis mit dem Spruch „I can´t breathe“ aufgetaucht. „Statements und Karikaturen sind ein störender Dorn in den Augen der Machthaber. Politische Kunst als Protest und Widerstand – die Künstler, die oftmals im illegalen Bereich agieren, sind immer auch politische Aktivisten.“[29] Auch in der Tierbefreiungsbewegung ist dieser nächtliche Kunst-Aktivismus zu finden. Beispielsweise in Form von Stencils, wie bereits erwähnt. Für diese Form des Aktivismus bietet das Projekt Wir kotzen Farben das nötige Zubehör.[30] Die politischen Forderungen der Tierbefreiungsbewegung finden auch über sogenannte Ad-Bustings ihren Weg in den öffentlichen Raum. Darunter zu verstehen sind Aktionen, bei denen Werbebotschaften im öffentlichen Raum künstlerisch verändert und mit politischen Botschaften versehen werden. Auch wenn Kunst mit Tierbefreiungsbezug Einzug in die Galerien erhält, kann das Ganze politisch werden. Beispielsweise, wenn die Künstler*innen nicht nur darstellend arbeiten, sondern die gesellschaftlichen Gegebenheiten kritisch thematisieren. Kunst und Performance können aber auch im direkten politischen Kampf genutzt werden beziehungsweise dazu, soziale Bewegungen, wie die Tierbefreiungsbewegung, zu unterstützen. Kritische Interventionen, beispielsweise in Form sogenannter Jubeldemos, können als satirisch-künstlerisches Mittel eingesetzt werden – Aktivist*innen werden quasi zu Performance-Künstler*innen. Aber auch eine direkte Unterstützung von Projekten der Tierbefreiungsbewegung durch Künstler*innen ist denkbar. Einerseits können Kunstschaffende ihre Werke Akteur*innen von sozialen Bewegungen zur Verfügung stellen, damit diese ansprechende Informationsmedien entwickeln können. Es besteht aber auch die Möglichkeit einer ideellen Unterstützung. Beispielsweise haben Hartmut Kiewert und Lena Wenz für eine Crowdfunding-Kampagne des Projektes das tierbefreiungsarchiv jeweils eine Interpretation des Projektlogos angefertigt. Diese wiederum werden vom Projekt für die eigene Öffentlichkeitsarbeit genutzt. Dieses Beispiel verweist auf eine weitere Möglichkeit der Unterstützung durch Künstler*innen. Durch den Verkauf, beispielsweise von Soli-Postkarten, -postern, -stickern und -ausmalvorlagen der Logointerpretation des tierbefreiungsarchivs wurden Gelder für die erwähnte Crowdfunding-Kampagne gesammelt.

Kunst und Kultur sollten, so unser Fazit, auf Grund ihrer vielfältigen Möglichkeiten als Teil eines politischen Kampfes für die Befreiung von Menschen und anderen Tieren gesehen werden. Sie sind Teil des Aufbaus einer befreiten Gesellschaft, in dem sie die bestehenden Verhältnisse kritisieren und Wege aufzeigen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die die Interessen und Bedürfnisse aller menschlichen und nichtmenschlichen Tiere berücksichtigt. Der Aufbau einer nichtspeziesistischen Kultur muss mit verschiedensten Werkzeugen geschehen. Stifte, Pinsel, Leinwand, Meißel, Stimmen, Instrumente und vieles mehr sollten dabei Teil unseres Werkzeugkastens als Tierbefreiungsbewegung werden.

Text: Mirjam Rebhan & Tom Zimmermann
aus: Tierbefreiung 110 / März 2021
Beitragsbild: Hartmut Kiewert

 

[1] http://www.humanistische-aktion.de/kunst.htm
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Bildende_Kunst
[3] https://www.duden.de/rechtschreibung/Kultur
[4] Sezgin, Hilal (2020): Feuerfieber – Ein Tierrechtsroman
[5] Amo, Jean-Baptiste Del (2019): Tierreich
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Graphic_Novel
[7] Julia Kockel, Oliver Hahn: Tierethik – der Comic zur Debatte.
[8] https://hartmutkiewert.de/werk/
[9] die tierbefreier e.V. (Hrsg.) (2014): Galerie des Entsetzens – Die ungeschminkte Wahrheit über Mensch-Tier-Verhältnisse. 
[10] Brecht, Bertolt (2012): Die heilige Johanna der Schlachthöfe. 35. Auflage
[11] Sinclair, Upton (1985): Der Dschungel
[12] Gehrmann, Kristina (2018): Der Dschungel – Nach dem Roman von Upton Sinclair.
[13] Die Bühne der Vergessenen: Aktuelles. http://buehnedervergessenen.de/aktuell.html
[14] https://weanimalsmedia.org/
[15] bgr: Ein Unterwasserfilm schlägt Wellen. https://www.sueddeutsche.de/kultur/falsches-fazit-aus-findet-nemo-ein-unterwasserfilm-schlaegt-wellen-1.416069
[16] https://www.kunecoco.de/2017/02/10-fakten-uber-schweinchen-babe.html
[17] https://isso.de/blog/2020/11/29/ohne-uns-wirds-still-kultur-in-zeiten-einer-pandemie/
[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_heilige_Johanna_der_Schlachth%C3%B6fe#Vorarbeiten_Brechts_und_Elisabeth_Hauptmanns
[19] Ein Beispiel dafür gab es im Jahr 2019 bei der „Schließung aller Schlachthäuser“-Demonstration in Chemnitz. https://tierbefreier.org/blog/2019/06/10/tiere-sind-keine-ware-no-excuse-for-animal-abuse/
[20] Hörner/Antlfinger: Hasen – sich ein Bild machen und etwas zu Ende denken. In: Barbara Koch, Marco Wittkowski: I Wanna be your Dog II. Animal Liberation in der aktuellen Kunst.2018. S. 82-87
[21] Hartmut Kiewert: Kann Kunst Tierbefreiung. In: I Wanna be your Dog II. Animal Liberation in der aktuellen Kunst.2018. S. 93
[22] Matthias Rude: „Im Punk geht es um Freiheit – für Menschen und Tiere“. https://veganinfo.blog/2019/02/09/punk/
[23] Markus Kurth, Tina Henschke, Andreas Stark, Maria Struppek: Zum Verhältnis von Hardcore-Szene und veganer Biografie – Eine qualitative Untersuchung. In: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Bielefeld. 2011. S. 377-411
[24] https://www.textlog.de/adler-psychologie-bedeutung-gemeinschaftsgefuehls.html
[25] „Von der Nutztier-Biopolitik zum Post-Nutztier – Der Lebenshof als Subjektivierungsregime“ (Masterarbeit, Universität Hamburg, Dezember 2016)
[26] https://www.freudenbergstiftung.de/files/waskannkunst.pdf
[27] Interview mit Carolin Günther. https://www.rnd.de/lifestyle/fleisch-ist-heute-eine-ramschware-warum-wir-es-trotzdem-essen-73PGDHERDBEXZHVPAID7MLWWV4.html
[28] http://www.radikalkunst.net/; Einen Einblick in die Arbeit von Chris Moser liefert ein Interview in dieser Ausgabe der TIERBEFREIUNG.
[29] https://artsation.com/journal/editorial/political-art-today
[30] Wir kotzen Farben weist im Rahmen der geltenden rechtlichen Bestimmungen daraufhin, für welche Zwecke ihre Stencilvorlagen und Sprühdosen Verwendung finden sollten. https://www.facebook.com/wirkotzenfarben/