Tierbefreiung 104

Tierbefreiung 104

In dieser Ausgabe wollen wir unsere Serie fortsetzen, menschgemachte gesellschaftliche Strukturen zu analysieren und ihre Bedeutung für die Befreiung aller Tiere zu ergründen. Dazu beleuchten wir Religionen und Religionskritik. So wie Speziesismus und andere Unterdrückungsstrukturen sich durch alle Aspekte der Gesellschaft ziehen, so ist es kaum verwunderlich, dass sie auch eng mit Religionen verbunden sind, sind diese doch oftmals wichtiger und uralter Kern vieler Gesellschaften und Kulturen.


Editorial

Liebe Lesende,
als jüngstes Redaktionsmitglied ist es mir eine große Ehre, Euch im Editorial zu dieser wichtigen Ausgabe zu begrüßen. Dazu habe ich mir mal die Historie dessen angeschaut, was die Redaktion seit über einem Jahr bewegt, was in den Editorials der TIERBEFREIUNG so drin steht. Ob Winter oder Sommer, alle Redaktionsmitglieder warnen in jeder Ausgabe vor der drohenden Klimakatastrophe, die sich unaufhaltsam auf uns zubewegt. Doch wozu das Ganze eigentlich? Während unsere Bewegung und unsere Kompliz*innen seit Jahren – Jahrzehnten – vor Kapitalismus, Ausbeutung und insbesondere in der letzten Zeit eben der Klimakatastrophe warnen, tanzt der konservativ-traditionalistische Troll im Bierzelt auf und ab, lolt auf die Tollheit Deutschlands, stopft sich Würste aus ermordeten, empfindungsfähigen Lebewesen ins Gesicht und ist ja kein Nazi, aber das wird man doch wohl noch sagen dürfen.

Ab und zu wird dann ganz betroffen getan: „Der Regenwald sei in Gefahr, weil die Veganer[*innen] so viel Soja essen.“ – Der Regenwald wird absichtlich und in vollem Bewusstsein dafür gerodet und abgefackelt, um die schier unersättliche Lust auf ausgebeutete Tierkörper zu befriedigen. „Veganer[*innen] sind schuld, dass Arbeiter[*innen] unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten, weil sie so viel Avocados wollen.“ – Gegen die Ausbeutung menschlicher Tiere haben wir seit jeher protestiert und sehen darüber hinaus den Konsum nichtregionaler Waren aufgrund ihres ökologischen Fußabdrucks kritisch. „Irgendwas mit Ureinwohner[*innen], Präkariat und veganen Luxusprodukten.“ – resigniert: Prekäre Lebensumstände sind unausweichliche Konsequenz kapitalistischen Wirtschaftens, welches die radikale Tierbefreiungsbewegung genauso bekämpft wie (oft überteuerter) pflanzlicher Krempel von Fleischgiganten. …und wenn Ihnen dann
gar nichts mehr einfällt, haben wir zur Not halt angeblich Lederschuhe an.

Der Reaktionismus kümmert sich aber dabei um diese Probleme gar nicht wirklich. Er will keine Lösungen finden, er will gar nicht erst damit konfrontiert werden, dass er etwas anders machen könnte. Er möchte konservieren: in seiner Tradition, in seinem Glauben bleiben. Dass alles diejenige Ordnung hat, an die er glaubt. Am besten noch eine göttliche Ordnung und einen persönlichen Gott dessen Werk und Verantwortung die Welt ist. Das ist äußerst praktisch, denn wenn wir an absolute – gottgegebene – Regeln und Gesetze glauben, müssen wir nicht darüber nachdenken, ob diese vielleicht geändert werden müssen. Und wenn wir auf Gottes Schöpfung leben, dann werden wir ja ohnehin gar nicht in der Lage sein, diese zu zerstören oder wahlweise vor der Zerstörung zu bewahren. Und dies ist keinesfalls Strawpersoning: Immer wieder findet sich diese Überzeugung in Aussagen führender Politiker*innen im rechtskonservativen bis christdemokratischen Spektrum.

Insofern beschäftigen wir uns in dieser Ausgabe detaillierter damit, welche Konsequenzen dieser in religiösem Glauben verankerte Traditionalismus für uns und die Bewegung hat. Bevor wir diese Verbindung verstehen und benennen, haben wir keine Chance uns von alten Denkmustern und Dogmen zu emanzipieren. Die Befreiung aller Tiere kann nicht unabhängig betrachtet werden von unserer eigenen Befreiung.

Für Abwarten, Weiter so und Weichenstellen ist es zu spät. Die Welt brennt. Buchstäblich. Eine radikale Revolution muss jetzt sein – oder halt gar nicht mehr.
Alan Schwarz