Tierbefreiung 112

Das Konzept der Ernährungssouveränität tauchte nun schon einige Male in der TIERBEFREIUNG auf, beispielsweise in Bezug auf ein ökologisches Leben (Ausgabe 99/2018) oder tierbefreierische Utopien einer befreiten Gesellschaft (Ausgabe 101/2018). Mit dem aktuellen Titelthema wollen wir uns noch einmal intensiver mit Ernährungssouveränität beschäftigen, da das Konzept wichtige Impulse für die Tierbefreiungsbewegung, aber auch den Veganismus geben kann. Gleichzeitig könnten Forderungen der Tierbefreiungsbewegung auch stärker in die Bewegung für Ernährungssouveränität eingebracht werden. In dieser Ausgabe widmen wir uns insbesondere den Gemeinsamkeiten und Kontroversen von Ernährungssouveränität und Tierbefreiung.

Editorial

Liebe Leser*innen,

mit dem Sommer und den (Stand August) überschaubaren Coronainzidenzen nimmt der Schwung der sozialen Bewegungen wieder merklich zu, so auch in der Tierbefreiungsbewegung. Im Juli fanden das Camp und die Massenaktion des Bündnisses Gemeinsam gegen die Tierindustrie statt: 200 Aktivist*innen blockierten zehn Stunden lang die Firmenzentrale und das Futtermittelwerk des größten deutschen Geflügelschlachters PHW/Wiesenhof. Das sechstägige Camp war ein Ort der Vernetzung zwischen verschiedenen Bewegungen, des Austauschs mit der lokalen Bevölkerung und ein deutliches Zeichen des Protests im Herzen der deutschen Fleischindustrie. Und direkt in der anschließenden Woche fanden erneut die Forest Anti-Spe Days im Hambacher Forst statt – zu beiden Aktionen finden sich Berichte in diesem Heft.

Gleichzeitig zeigt sich, dass auch der Gegenwind nicht abnimmt. So sind die Aktivist*innen von Tear Down Tönnies weiterhin der Repression von Tönnies ausgesetzt. Nachdem sie dessen Schlachthof in Kellinghusen/Schleswig-Holstein im Oktober 2019 blockierten, fordert Tönnies Schadensersatz und Unterlassungserklärungen und versucht diese zivilgerichtlich einzuklagen. Ernüchternder Weise lassen die Gerichte zu, dass die Klagen, wie von Tönnies beantragt, separat verhandelt werden, was die Aktivist*innen unter enormen Druck setzt – denn jeder zusätzliche Prozess verursacht weitere Kosten und es genügt, wenn auch nur ein Gericht die Schadensersatzforderungen anerkennt. Auch im Fall von Gemeinsam gegen die Tierindustrie zogen die Behörden quasi bis zum letzten Tag alle Register, um das Camp – ganz im Sinne der Tierindustrie – zu verhindern; schließlich entschieden die Gerichte jedoch im Sinne der Aktivist*innen. Es zeigt sich also: Der Bedarf nach praktischer Solidarität und stabilen Antirepressionsstrukturen in der Tierbefreiungsbewegung ist ungebrochen!

Das Titelthema der vorliegenden Ausgabe lautet From Beef to Beans – Ernährungssouveränität, kleinbäuerliche Tierhaltung und Tierbefreiung. Wir nehmen in den Blick, wo die Tierbefreiungsbewegung anschlussfähig mit anderen sozialen Bewegungen ist, etwa den Bewegungen für Ernährungssouveränität und Klimagerechtigkeit – und wie, beispielsweise beim Thema kleinbäuerliche Tierhaltung, mit inhaltlichen Differenzen umgegangen wird. Dabei versuchen wir auch, Perspektiven von außerhalb Europas aufzunehmen: etwa mit einem Interview mit Margaret Robinsons, die an der Nordostküste des heutigen Nordamerikas lebt und deren Veganismus in indigenen Praktiken verwurzelt ist; und einem Erfahrungsbericht von Fernando über die Zusammenhänge zwischen Großgrundbesitz, Tierindustrie und Paramilitarismus in Kolumbien.

Bei der Zusammenstellung der verschiedenen Beiträge wurde uns immer deutlicher, dass das Thema weitaus mehr Gesichtspunkte hat, als in einer Ausgabe des Magazins hinreichend beleuchtet werden können. Wir verstehen die vorliegenden Texte daher als Beiträge zu einer unbedingt zu vertiefenden Auseinandersetzung mit dem Konzept der Ernährungssouveränität und dem bewegungsübergreifenden Austausch zu kleinbäuerlicher Tierhaltung. Dabei sollten insbesondere nichteurozentrische Perspektiven auch in Europa stärker diskutiert werden.

Solidarische Grüße
Friedrich Kirsch

Unsere kommenden Titelthemen für 2021/22.
In Klammern der dazugehörige Redaktionsschluss.
• TB 113 „Speziesismus“ (22.10.2021)
• TB 114 „Kinder und Tiere“ (21.01.2022)
• TB 115 „Domestikation von Tieren“ (22.04.2022)

 

Aus dem Titelthema:

  • Die Nyéléni-Deklaration – Forderungen der Bewegung für Ernährungssouveränität
  • Streitgespräch über das Verständnis und die politische Praxis der Ernährungssouveränität
  • Kleinbäuerliche Höfe als Weg zu mehr „Tierwohl“?
  • Nichtgenutzte Tiere sind nicht vorgesehen
  • Indigener Veganismus – Interview mit Margaret Robinson
  • Warum? Über die Zusammenhänge paramilitärischer Gewalt, Großgrundbesitz und Tierhaltung in Kolumbien
  •  Rezension: Neue Wege für die Landwirtschaft: Inclusive Responsibility“

Aus dem Inhalt:

  • Erlebnisbericht: Forest Anti-Spe Days Hambi
  • We shut shit down! Camp und Massenaktion gegen PHW/Wiesenhof
  • Tierversuche – Blockade des Lungenforschungszentrums in Gießen
  • Rezensionen: Friedrich Mülln „Soko Tierschutz“ und Colin Goldner „Robby – der letzte Zirkusschimpanse“
  • Shark City abgesoffen: Mega-Aquarium wird nicht gebaut
  • Keine neuen Orang-Utans für den Zoo Hannover
  • Todesfalle Gully: Fallenwirkung von Gullys, Kläranlagen, Lichtschächten, Brunnen und Pools auf Tiere
  • Pressemitteilung: Polizeigewalt und eskalierende Repression gegen Tierrechtsaktivist*innen
  • Frankfurt: Soli-Aktion für Tear Down Tönnies
  • Solidarität mit den fünf Orang-Utans im Dresdner Zoo
  • u.v.m.