CoVeni, CoVidi, CoVici

CoVeni, CoVidi, CoVici

Über die Instrumentalisierung von Einschränkungen, Überwachung und den Umgang mit Ausnahmesituationen

Eine kommentierte Zustandsaufnahme von Alan Schwarz

Es steht außer Frage, dass die durch den SARS-CoV-2-Erreger ausgelöste COVID-19-Pandemie eine Gefahr für die menschliche Zivilisation auf dem gesamten Planeten darstellt. Ja, es steht außer Frage, obwohl einige Gruppierungen, Individuen, Präsidenten et cetera in dieser Pandemie neues Futter für rassistische, nationalistische und – natürlich, wie zu erwarten – antisemitische Verschwörungstheorien und Rhetoriken wittern. Aufgrund der extremen Übertragbarkeit ist eine Eindämmung des Ausbruchs, und zwar eine weltweite Eindämmung, eine notwendige Maßnahme, um hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen zu retten. Dabei ist die Durchführung und Auswahl der Eindämmungsmaßnahmen Zeugnis für die Gesellschaft und sollte von allen Revolutionär*innen kritisch und scharf beobachtet werden. Dieser Text möchte daher aufzeigen, welche Risiken bestehen, wenn eine Ausnahmesituation von autoritären oder kapitalistisch motivierten Strukturen ausgenutzt beziehungsweise instrumentalisiert wird und möchte gleichzeitig dazu animieren, Eigenverantwortung zu übernehmen und einen solidarischen Umgang in dieser Pandemie zu üben.

Während im letzten Jahrhundert noch Menschen zur Bespitzelung ihrer Nachbar*innen herangezogen werden mussten, etwa im Dritten Reich oder der DDR, ist Überwachung längst ein technisches Unterfangen geworden und nicht mehr nur für Staatsregierungen interessant. Je gravierender solche Bestrebungen sind, umso wahrscheinlicher ist, dass sie mit dem Versprechen erhöhter Sicherheit begründet werden; können reale Gefahren instrumentalisiert werden, umso besser. Ansonsten werden sie konstruiert.

Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele: Der nach 9-11 ausgerufene „War-On-Terror“ der USA, die Überwachung öffentlicher Plätze, Grenzkontrollen, Identifikationspflicht beim Abschluss von Telekommunikationsverträgen und so weiter. Doch greifen wir mal willkürlich die Kameraüberwachung in der Öffentlichkeit heraus.

Versprochen wird der Schutz vor Überfällen. Es fällt sehr schnell auf, dass die bloße Beobachtung eines ahndungsfähigen Angriffs, etwa eines Diebstahls oder einer Körperverletzung, erstmal keinen direkten Schutz vor diesem liefert. Denn solche Angriffe passieren zu schnell, als dass eine Reaktion zeitnah erfolgen könnte. Auch das Versprechen, eine höhere Aufklärungsrate solcher Taten zu erlangen, ist falsch. Denn die Erkennung von Personen, die eine solche Tat planen, ist notorisch schwer. Weder die Aufklärungs- noch die Verhinderungsraten werden bekanntermaßen weder durch großflächige noch lokalisierte Kameraüberwachung reduziert.[1,2]

Wieso werden aber Millionen Euro, Pfund et cetera hierin investiert?

 

Die Deutsche Bahn zum Beispiel hat seit Jahrzehnten ein Problem damit, dass obdachlose Menschen im Winter anstatt auf der Straße zu (er)frieren manchmal Bahnhöfe aufsuchen, um sich darin aufzuhalten, aufzuwärmen oder gar Reisende um eine Spende zu bitten. Und im Gegensatz zu einem tätlichen Angriff mit Körperverletzung lassen sich auf den voll-überwachten Bahnhöfen auf einer Bank liegende, obdachlose Menschen hervorragend von den in einer beheizten Kabine sitzenden Securities ausmachen.

Unabhängig davon lassen sich durch in den letzten Jahren immer ausgereiftere Gesichtserkennungssoftware Bewegungsmuster von Konsument*innen in großen Einkaufszentren analysieren, zu denen große Bahnhöfe zunehmend werden. Die Datenanalyse von Konsumverhalten verspricht für die Betreibenden deutliche Umsatzerhöhungen, da sie in Manipulation und Steuerung der Bewegungspfade übersetzt werden kann.

 

Die Dynamik zur Beschneidung von Freiheitsrechten basiert also darauf, Menschen zu versprechen, einen wirksamen Schutz vor einer (realen, potentiellen oder frei erfundenen) Gefahr zu bieten, wenn sie nur genug Angst vor dieser haben. Die Gefahr nachts in einem einsamen Bahnhof angegriffen zu werden ist real, aber das vorgeschlagene Mittel liefert keinen wirksamen Schutz. Es kann aber Interessen der Betreibenden bedienen, die diese nicht offen zugeben müssen oder wollen. Die Gefahr in einem für einen Anschlag entführten Flugzeug zu sterben ist real, wenn auch äußerst unwahrscheinlich. Die Mittel zur Übernahme eines Flugzeugs an Bord zu schmuggeln sind so vielzählig und einfach, dass Flughafenkontrollen keinen effektiven Schutz bieten können (auf eine detaillierte Anleitung soll hier jedoch verzichtet werden).[A]

Die Ablehnung einer Maßnahme zur Eindämmung einer bestimmten Gefahr bedeutet also nicht notwendigerweise, dass die Gefahr als solche nicht existiert. Die Maßnahme kann einen zu hohen Preis fordern oder schlicht ungeeignet sein vor der Gefahr zu schützen.

 

Auftritt: Coronavirus

Bevor wir eine Statusaufnahme für den deutschsprachigen Raum vornehmen, schauen wir zunächst auf die globale Situation.

Das Internationale Institut zur Förderung von Demokratie und demokratischer Teilhabe („International IDEA“) hat einen interaktiven Atlas angelegt, der den Einfluss der Pandemie auf „Demokratie und Menschenrechte“ aufzeigt.[3]

Dieser dient vornehmlich dazu, die Beschneidung von Freiheitsrechten zu katalogisieren. Darüber hinaus versucht diese Seite zusätzlich, mit einem nicht klar erkennbaren Schema jede Nation in eine Skala einzuordnen, die von verschiedenen Ausprägungen von „demokratisch“ bis hin zu „autoritäres Regime“ rangiert. Während die Katalogisierung der Beschneidung von Freiheitsrechten eine relevante und beachtliche Sammlung darstellt, ist die hieraus abgeleitete demokratische Einstufung weniger aussagekräftig: Beispielsweise von Rechtsnationalist*innen beziehungsweise Faschist*innen regierten Staaten, wie etwa die USA und Brasilien, attestiert die Karte eine im Mittelfeld funktionierende Demokratie. Dass die US-Regierung die Gefahr eines Virusausbruchs von Anfang an heruntergespielt beziehungsweise ignoriert hat, bedeutet, dass es tendenziell wenige bis keine Beschränkungen aufgrund der Coronapandemie gibt. Daraus folgt aber nicht, dass das derzeitige Regime eine „funktionierende Demokratie“ darstellt.

Der Atlas ist also mit kritischer Vorsicht zu genießen, kann jedoch hilfreiche Informationen enthalten.

 

Tracing Apps

Interessant sind nämlich die Kataloge der Nationen, bei denen der Atlas zu einem negativen Urteil gelangt. Beispielsweise China zeigt eine bemerkenswerte Liste erschütternder Meldungen. Mehrere Menschen, die verschwunden sind, nachdem sie Kritik an dem Umgang der Regierung mit dem Ausbruch geübt haben, bilden nur die erschreckende Spitze des Eisbergs.

Chinas Version einer Corona-App, welche in der Pilotregion Hangzhou effektiv verpflichtend installiert werden muss, um aus dem Haus zu gehen, gibt über einen maschinenlesbaren QR-Code auf dem Display in grün, gelb oder rot Auskunft darüber, welches Ansteckungsrisiko von der jeweiligen Person ausgeht, und funkt diesen in die unmittelbare Umgebung des Mobiltelefons. Laut einer Analyse der New York Times[5] übermittelt die App zusätzlich Informationen über die Benutzer*innen an die Polizei und legt darüber hinaus nicht offen, anhand welcher Daten oder Verfahren das von der App angezeigte Risiko berechnet wird. Die chinesische Human Rights Watch Forscherin Maya Wang kommentiert dies explizit: „Der Ausbruch des Coronavirus stellt einen neuen Meilenstein in der Geschichte der chinesischen Massenüberwachung dar“.[ebd]

Es ist nicht schwierig, sich auszumalen, was die Konsequenzen sind, wenn eine App entscheidet, deren Algorithmus nach offizieller Aussage wahlweise als Unternehmens- oder Staatsgeheimnis nicht einsehbar ist, ob, wann und wie Menschen das Haus verlassen, öffentliche Verkehrsmittel benutzen oder Reisefreiheit genießen dürfen.

 

Tracing versus Tracking

Tracing ist nicht zu verwechseln mit Tracking (beides zu Deutsch: verfolgen). Bei Letzterem werden alle Personen genau aufgezeichnet: wo sie wann, wie und wie lange hingehen. Aus der Überschneidung dieser Bewegungsprofile lassen sich dann Wahrscheinlichkeiten für Kontakte zwischen Personen ableiten (neben anderen Informationen[7]). Beim Tracing hingegen werden nur tatsächliche Kontakte, möglicherweise verschlüsselt, festgehalten. Hieraus lassen sich abhängig von der Umsetzung nicht, nur sehr bedingt oder aber auch sehr genau Bewegungsprofile einzelner Individuen ableiten.

Besonders schwer ist es ein Tracingverfahren zu implementieren, welches keine Extraktion benutzer*innenbezogener Daten erlaubt. Dies steht im Gegenzug zu dem sehr groben Hammer des Trackings, welches in Mobiltelefonen heutzutage äußerst einfach umsetzbar ist.

 

Deutsche Apps

In Deutschland hat die Bundesregierung ebenfalls eine Corona-App entwickeln lassen, die in einer freundlichen Ansprache der Bundeskanzlerin als „neues wichtiges Werkzeug im Kampf gegen die Pandemie“ ihren „Mitbürgerinnen und Mitbürgern“ zur Installation empfohlen wird.[6] Die Tracing-App soll Personen ermöglichen, einzuschätzen wie wahrscheinlich es ist, dass sie sich unbewusst infiziert haben. [Siehe „Tracing versus Tracking“]

Tatsächlich haben die Bundesregierung und die technischen Entwicklerinnen SAP und die Deutsche Telekom bei der Entwicklung dieser App sehr viel richtig gemacht. Zunächst hat die Regierung direkt zu Beginn klargestellt, dass die Verwendung der App grundsätzlich freiwillig sein muss, auch wenn dies leider nicht gesetzlich verankert wurde. Der gesamte Code ist quelloffen[C,8] und bei der Entwicklung wurde auf Feedback und fachliche Reviews eingegangen. Nach eingehender Analyse deutet nichts auf Abhörmechanismen oder kryptographische Schwachstellen in der Software hin. Eine äußerst detaillierte Übersicht über alle Aspekte der App gibt heise online.[9a] Mehr Details zur darunter liegenden Technologie liefert heise ebenfalls.[9b]

 

Besonders interessant daran ist, dass zwar die App optional zu installieren ist, ob von der deutschen Bundesregierung oder einer anderen Staatsregierung, allerdings die von Google und Apple angebotene Tracing-Schnittstelle nicht. Sie wird auf jedes Gerät bei einem Update installiert, welches typischerweise voll-automatisch geschieht. Ohne, dass eine Erlaubnis eingeholt wird, beziehungsweise eine Benachrichtigung erscheint.[B1] Beide Technologiegiganten beteuern jedoch, dass nur offizielle Apps von Nationalstaaten auf diese Tracing-Schnittstelle Zugriff erhalten. Allerdings fand in einer jüngst veröffentlichen Studie europäischer Tracing-Apps[9c,9d] eine Forschungsgruppe aus Irland „extrem beunruhigende“ Probleme mit zumindest der unter der App liegenden, von Google bereitgestellten, Schnittstelle. Obwohl das Forschungspapier ebenfalls bestätigt, dass die meisten europäischen Tracing-Apps nicht zu beanstanden sind, beschreibt es, dass die zum Betrieb der Apps notwendigerweise zu aktivierenden Google Play Services regelmäßig, also mehrfach stündlich, eine Fülle an Informationen nach Hause funken, darunter die IP, IMEI, Telefon SN, SIM SN, Telefonnummer, MAC Adresse, Google-Mailadresse sowie detaillierte Informationen zu derzeit laufenden Apps. Laut den Sicherheitsforscher*innen, „ist es schwer, sich eine intrusivere Datenerfassung vorzustellen“. Die Google Play Services dürften jedoch bei quasi jedem Android aktiviert sein, sodass diese Datenerfassung auch ohne Installation einer Tracing-App durchgeführt wird.[B2] Auch wenn die Google Play Services theoretisch deaktiviert werden könnten, würde dies eine Verwendung jedweder Tracing-Apps versperren. In welchem Maße die Datenerfassung aufgrund der Implementation der Tracing-Schnittstelle im Vergleich zu den zuvor erfassten Daten verschlimmert wurde, führt der Bericht nicht aus. Wie gravierend das Gegenstück hierzu bei Apple-Systemen sei, war ebenfalls nicht Gegenstand der Studie. Dass Apple jedoch zurückhaltender als Google ist, ist nicht zu erwarten.

 

Unabhängig hiervon bestehen erhebliche Zweifel an der Effektivität und Zuverlässigkeit des Tracing-Mechanismus. Denn das Verfahren lässt viel Raum für falsche Positive und falsche Negative; es kann also anschlagen, obwohl keine Infektion stattgefunden hat (etwa: wenn Menschen sich durch eine Glasscheibe hindurch unterhalten), und es gibt keine Garantie, dass eine Infektion detektiert wird. Eine Aussage darüber, ob das Verfahren tatsächlich hilfreich ist und die Wahrscheinlichkeit einer Detektion steigt, wird sich erst im Nachhinein zeigen und nur dann, wenn genug Menschen a) die App installiert haben, b) ständig ein Smartphone mit aktiviertem Bluetooth (beziehungsweise BLE) mit sich führen und c) gegenenfalls Interoperabilität mit eventuellen Apps im mindestens europäischen Umland nachgerüstet wird.

 

Deutlich anders sieht es hingegen bei der vom Robert Koch Institut (RKI) seit Frühling entwickelten Datenspende-App aus, welche ein ganz anderes, viel schwierigeres, Ziel verfolgt. Diese war von Anfang an von grotesken Sicherheitsfehlern betroffen und wurde von einem viel kleineren Forschungsteam eines nicht auf IT-Sicherheit spezialisierten Fachbereichs entwickelt. Insbesondere die Analyse des CCC Ende April[10] hatte eklatante Probleme zutage gefördert. Das Ziel der RKI-Forscher*innen war es, ein Frühwarnsystem zu entwickeln, welches unabhängig vom sogenannten Contact-Tracing (welches die oben beschriebene App der Bundesregierung verfolgt) anhand von biologischen Messdaten (etwa Ruhepuls) ermittelt, ob eine Infektion indiziert ist. Die technischen Schwachstellen und die intransparente Datenhaltung führten dazu, so der CCC, dass Dritte eine zu geringe Hürde hätten, Zugang zu Gesundheitsdaten zu erhalten, welche Rückschlüsse auf äußerst persönliche Informationen zulassen. Hieraus ließen sich von Angreifenden nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer Coronainfektion ablesen, sondern allerhand andere Krankheitsbilder und allgemein persönliche Informationen. Und diese können in Verbindung mit dem vollen Namen der Handybenutzer*innen in Beziehung gesetzt werden.

Obwohl die meisten, wenn auch nicht alle, Kritikpunkte dieser und anderer Analysen inzwischen von den Forscher*innen repariert wurden, ist der Versuch anhand von Datenanalyse sehr vieler Gesundheitsdaten Prognosen zu errechnen, immer noch äußerst theoretisch.[11] Auch retrospektiv können neue Ausbrüche, wie die kürzlich von der Tierausbeutungsindustrie verursachten, nicht in den vom RKI erhobenen Daten erkannt werden.

 

Vorratsspeicherung

Das RKI hat einen großen Beitrag geleistet, Menschen über die Gefahren und die Verbreitungswege der Pandemie zu informieren. Auch die Präventionsmaßnahmen haben zumindest anfänglich bis zu den Neuausbrüchen nach den Lockerungen Mitte Juni, zu einer guten Eindämmung in Deutschland beigetragen.[4]

Es ist bisher eine der großen Herausforderungen dieses Virus, dass die Erkennung von Infizierten nicht durch eine Messung der Antikörperkonzentration im Blut durchgeführt werden kann, beziehungsweise bestehende Antikörpertests noch nicht präzise genug sind.[12] Stattdessen wird, zum Beispiel mit einem Rachenabstrich, eine DNA-Probe der zu testenden Person entnommen und mithilfe der rRT-PCR-Analysemethode auf Spuren der Virus-RNA in den menschlichen Zellen untersucht. Das bedeutet aber auch, dass eine Patient*innenprobe grundsätzlich Zellen der getesteten Person, und damit DNA, enthalten muss, um für einen Test genutzt werden zu können.

In diesem Kontext bedeutet die Weisung des RKI sämtliche für Coronatests erhobenen Proben auf unbestimmte Zeit zu asservieren, dass indirekt ein DNA-Register aller in Deutschland lebenden Personen entstehen wird. Das RKI verspricht sich hiervon möglicherweise nach neuem Erkenntnisgewinn in der Erforschung des Virus neue Tests auf ein Archiv von Proben ausführen zu können – prinzipiell eine gute Idee aus wissenschaftlicher Sicht. Diese Vorrats-Gen-Speicherung ermöglicht aber gleichzeitig auch einen ganzen Katalog weniger wünschenswerter staatlicher Optionen, zumal das Bundesgesundheitsministerium (BMG) begonnen hat, die Wasser der Testpflicht zu erkunden.[13] Bislang ist die Führung der deutschen DNA-Datei streng in §81g StPO[14] geregelt, auf schwere Straftaten beschränkt und bedarf richterlicher Anweisung.[D]

 

Aber die Polizei würde doch niemals …

Nach den coronabezogenen Schließungen von Gaststätten und anderen öffentlichen Einrichtungen haben viele Bundesländer eine bedingte Wieder-Öffnung erlaubt. Als low-tech-Variante einer Tracing-App müssen die Gaststätten Listen der Besucher*innen führen. Bei einem Ausbruch beziehungsweise der Ansteckung Einzelner sollen so die zum gleichen Zeitpunkt im Restaurant befindlichen Menschen informiert werden können.

 

Anfang Juli bedrohte angeblich ein Mensch in mehreren Straßen Hamburger Passant*innen mit einem Teppichmesser und wurde kurze Zeit darauf von der Polizei festgenommen und sitzt nun in U-Haft.[16] Berichten zufolge war einer dieser Orte auch die Straße der dortigen Filiale der „vegan“-esoterischen Loving-Hut-Kette.[E]

Das war Grund genug für die Polizei Hamburg, die gesamte Liste mindestens dieses einen Restaurants „sicherzustellen“ und die dort eingetragenen Menschen zu kontaktieren, um sie zu Zeug*innenaussagen zu bewegen. Ob das Restaurant die Liste bereitwillig herausgegeben hat, ist nicht bekannt. Einem der hierauf angerufenen Menschen zufolge hatte die Polizei zusätzlich bei dem Telefonanruf versäumt, sich vorzustellen und die Betroffenen über ihre Rechte zu informieren.[18]

 

Dieser Vorfall ist keineswegs ein Einzelfall und auf Hamburg beschränkt. Weitere Fälle, bei denen die Polizei Kontaktlisten konfiszierte, sind mindestens aus Bayern, Rheinland-Pfalz, Bremen, dem Saarland und Hamburg bekannt. Allein in den letzten beiden Bundesländern sind zusammen neun solcher Fälle dokumentiert.[19] Öffentlich wollen Politiker*innen die Gunst der Wähler*innen gewinnen, indem sie von Ausnahmefällen bei besonders schweren Straftaten sprechen, nämlich solchen „gegen das Leben“, bei denen auf die Listen zugegriffen wird. Unbemerkt bleibt hier zunächst, dass dies keinesfalls auf Mord beschränkt ist, sondern auch den repressiven Paragraphen 219a („Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“) mit dem in der Vergangenheit bereits Ärzt*innen von der Ausübung ihrer Arbeit abgehalten wurden. Des Weiteren scheint die Polizei auch Rauschgiftvergehen unter diese Kategorie zu zählen, denn hier griff sie in Bayern auf Kontaktlisten zu.[20]

 

Indes weigert sich die Bundesregierung[21a, 21b] über ein Begleitgesetz zu den länderspezifischen Infektionsschutzgesetzen ein Beweisverbot über Kontaktlisten zu erlassen und verteidigt dies damit, dass eine Regulierung nicht notwendig sei, da der Zugriff auf die Listen bereits über die Strafprozessordnung (StPO) geregelt sei. Auch die Polizei beruft sich in ihrer Begründung auf den Paragraph 163 (und dessen Unterpunkte), der aber lediglich aussagt, dass die Polizei verpflichtet ist, Straftaten zu erforschen und deren Verdunklung zu verhindern. Dass dies eine Regelung der Polizeipflichten ist, hat allerdings nichts mit einer Regulierung des Zugriffs auf Kontaktlisten zu tun. Dass die (nicht-nazi-)Oppositionsfraktionen im Bundestag den Kontaktlistenzugriff kritisieren, ist nicht wirklich ernst zu nehmen, da fast alle Bundesländer dies ganz explizit erlauben und verteidigen.

 

Die Kontaktlisten werden explizit geführt, um die Ausbreitung des Virus einzugrenzen. Unter dieser Bedingung erklären sich Menschen bereit, sich in solche Listen einzutragen. Ungeachtet des damit einhergehenden Vertrauensschadens, der durch eine Zweckentfremdung dieser Daten angerichtet wird, sieht es die Polizei aber als „gesunden Menschenverstand“ an, sich bereits bei vergleichsweise niedrigschwelligen Sachverhalten Eindämmungsmaßnahmen für ihre Zwecke anzueignen. Gepaart mit dem Umstand, dass das Eintragen in solche Listen verpflichtend für alle „Begegnungsräume“ ist, nicht nur in Restaurants, und kein Enddatum dieser Kontaktlistenführung festgelegt ist, ist dies ein äußerst potentes Rezept für einen massiven Ausbau des staatlichen Überwachungsapparates. Derzeit sind noch keine Fälle von Repressionsversuchen aufgrund fehlender oder unvollständiger Kontaktführung bekannt, allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass sich dies in der Zukunft verschärft. Insbesondere, wenn Polizeibehörden immer häufiger feststellen, dass die Listen, die sie konfisziert haben, unrichtige Angaben enthalten.

 

Vorläufiges Fazit

Es ist leicht, die totalitäre Färbung von Programmen wie der chinesischen Corona-App zu erkennen. Weniger einfach ist es hinter komplizierten technischen Verfahren wie dem von Google und Apple implementierten Contact-Tracing versteckte Angriffe zu erkennen und ihr Potential für flächendeckende Überwachung einzuschätzen. Ob ein tiefgreifendes, akademisches Verständnis von kryptografischen Verfahren und moderner Funktechnologie, wie BLE, oder ein medizinisch-biologisches Verständnis der Funktionsweise von rRT-PCR-Verfahren zur Isolation von RNA-Strängen, die tatsächlichen Gefahren und die sich ergebenden Angriffsvektoren können häufig nur von sehr wenigen sehr spezialisierten Expert*innen wirklich im Detail begriffen werden. Den Autoritäten, die von ihrem flächendeckenden Einsatz profitieren würden, blind zu vertrauen wird nicht zu einer befreiten und informierten Gesellschaft führen. Insbesondere kann selbst eine gut gemeinte Maßnahme einer wohlgesonnenen Regierung nach der nächsten Wahl einer (noch) rechte(re)n in die Hände fallen.

 

So sehr technische Lösungen für viele Probleme auf der Welt sinnvoll und hilfreich sind, wird eine durch eine hoch-ansteckende Krankheit ausgelöste Pandemie nicht dadurch gelöst, möglichst ausgefeilte Überwachungsstrategien zu entwickeln. Hier ist sowohl der Preis zu hoch, die wenigen (sowohl hier wie auch anderswo) errungenen Freiheitsrechte aufzugeben, wie auch sind viele der vorgeschlagenen Ansätze wenig erfolgsversprechend. Für Einschnitte und Vorgaben, die notwendig sind und die daher auch unterstützt werden sollten, muss zugleich stets klar sein, wann eine Ausnahmeregelung aufgehoben wird. Wann ist für eine geplante Maßnahme X vorgesehen zum Normalzustand zurückzukehren? Gerade Sicherheitsmaßnahmen haben ansonsten eine Tendenz sich zu verselbstständigen und sich zu normalisieren.

 

Anstatt autokratischer Mittel muss eine gesamtgesellschaftlich gegenseitige Solidarität praktiziert werden, indem die sehr reale Gefahr endlich ernst genommen wird. Tragt Eure Masken und vermeidet Menschenansammlungen. Der unnötige Konsum sich wieder prall füllender Einkaufsstraßen in den Innenstädten, der bereits vor Corona nur dazu geeignet war, unser Leben längerfristig durch ausbeuterische Verhältnisse und das Vorantreiben der Klimakatastrophe zu zerstören, kann anstatt innerhalb von Jahrzehnten nun innerhalb von Wochen und Monaten töten. Eine Katastrophe, ob Klima oder Pandemie, ernst zu nehmen und einen selbstbestimmten Beitrag zu ihrer Bekämpfung zu leisten, bedeutet auch das eigene Handeln zu hinterfragen und es erfordert insbesondere – egal wie anrüchig es klingen mag – Disziplin.

 

Anmerkungen:

[A] Grenzen und Grenzkontrollen fallen nicht in dieses Muster, da ihre einzige Begründung nur mit rassistischen und nationalistischen Motiven begründet werden kann. Und diese Motive werden von den entsprechen Befürworter*innen auch so gut wie nicht verschleiert. Siehe Frontex, siehe Brexit oder noch extremer siehe „Borderwall“ (US/Mexiko Grenze).

[B1] Unter Android lässt sich unter (((k)))Einstellungen > Google > Dienste(((k))) nachsehen, ob die Schnittstelle installiert wurde, beziehungsweise ob sie derzeit aktiviert ist oder nicht. Standardmäßig ist sie nicht aktiviert.

[B2] Der Umfang der gesammelten Daten kann (((f)))reduziert(((f))) werden, indem unter (((k)))Einstellungen > Google(((k))) auf die drei kleinen Punkte in der oberen rechten Ecke geklickt wird und unter „Verwendung und Diagnose“ der Schieberegler auf „aus“ gestellt wird.

[C] Was ist Open Source? [22]

[D] Dass die Polizei bereits jetzt Gesetze eher als Empfehlung wahrnimmt und sie ignoriert, wenn sie Informationen aus Personen herausfoltern möchte, ist bekannt.[15] Ein Werkzeug wie eine allumfassende DNA-Bank in den Händen des Staates und der Polizei ist kaum auszumalen. Die Verpflichtung zur DNA- Abgabe ist zum Datum der letzten Überarbeitung dieses Textes noch auf Personen beschränkt, die aus sogenannten „Risikogebieten“ einreisen. Bei Erscheinen dieses Heftes könnte dies bereits weiter ausgebaut worden sein.

[E] Die „vegane“ Restaurant-Kette Loving-Hut ist ein Franchise-Unternehmen um die Sektenführerin Ching Hai, die sich selbst als „Supreme Master“ (etwa: „höchste Meisterin“) bezeichnet und sich als direkten Kontakt zu Gott für Ihre Anhänger*innen darstellt. Der esoterische Kult, eine wilde Mischung aus unter anderem buddhistischen und christlichen Anleihen, erfordert eine kategorische Kritiklosigkeit und ununterbrochene Fröhlichkeit von den Mitgliedern wie auch von den Betreibenden und Angestellten der Restaurants. Siehe [17], ein für vice Verhältnisse solider Artikel über Loving-Hut.

 

Linkliste:
[1] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Studie-Videoueberwachung-in-Berliner-U-Bahn-brachte-keinen-Sicherheitsgewinn-183294.html
[2] https://www.csmonitor.com/World/Europe/2012/0222/Report-London-no-safer-for-all-its-CCTV-cameras (engl.)
[3] https://www.idea.int/gsod-indices
[4] https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4
[5] https://www.nytimes.com/2020/03/01/business/china-coronavirus-surveillance.html
[6] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/corona-warn-app
[7] https://netzpolitik.org/2017/g20-heisst-auch-gipfel-der-ueberwachung/
[8] https://github.com/corona-warn-app
[9a] https://www.heise.de/news/Fragen-und-Antworten-zur-Corona-Warn-App-der-Bundesregierung-4784570.html
[9b] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Coronavirus-Kontaktverfolgung-wird-Teil-von-Android-und-iOS-4702166.htm
[9c] https://www.heise.de/news/Corona-Apps-im-Datenschutz-Check-Android-telefoniert-nach-Hause-4857162.html
[9d] https://www.scss.tcd.ie/Doug.Leith/pubs/contact_tracing_app_traffic.pdf (engl.)
[10] https://www.ccc.de/de/updates/2020/abofalle-datenspende
[11] https://netzpolitik.org/2020/datenspende-app-des-rki-experiment-mit-offenem-ausgang/
[12] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Vorl_Testung_nCoV.html
[13] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus-infos-reisende/faq-tests-einreisende.html#c18621
[14] https://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__81g.html
[15] https://hambacherforst.org/blog/category/repressionen/
[16] https://taz.de/Daten-Missbrauch-in-Hamburg/!5693845/
[17] https://www.vice.com/de/article/xw5b9w/vom-weltuntergang-guru-currys-und-schweinegedichten-zu-besuch-bei-einem-veganen-kult
[18] https://twitter.com/RA_PhilHofmann/status/1278614159555469312
[19] https://www.tagesspiegel.de/politik/faelle-aus-fuenf-bundeslaendern-bekannt-polizei-nutzt-kontaktdaten-aus-restaurants-auch-zur-strafverfolgung/26056130.html
[20] https://netzpolitik.org/2020/bayern-polizei-nutzt-corona-kontaktlisten-fuer-drogenermittlungen/
[21a] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-08/gastronomie-gaestelisten-corona-regierung-daten-strafverfolgung
[21b] https://netzpolitik.org/2020/gastro-vorratsdatenspeicherung-bundesregierung-will-corona-listen-nicht-besser-schuetzen/
[22] https://www.redhat.com/de/topics/open-source/what-is-open-source

 

Text: Alan Schwarz
aus: Tierbefreiung 108 / September 2020