„…sich auf die Kämpfe einlassen, aus denen Ernährungssouveränität entstanden ist“

„…sich auf die Kämpfe einlassen, aus denen Ernährungssouveränität entstanden ist“

Streitgespräch über das Verständnis und die politische Praxis der Ernährungssouveränität

Was bedeutet das Konzept der Ernährungssouveränität in unterschiedlichen Kontexten? Was hindert Tierhalter*innen daran, gemeinsam mit Tierbefreiungsaktivist*innen gegen die Tierindustrie zu kämpfen? Welche Forderungen und Aktionsformen könnten die bisher meist getrennt voneinander geführten Kämpfe vereinen? Welche Widersprüche gilt es auszuhalten und welche nicht? Diese Fragen haben wir in einer zweistündigen Videokonferenz zusammen mit Vertreter*innen der Ernährungssouveränitäts-, der Klimagerechtigkeits- und der Tierbefreiungsbewegung andiskutiert. Leider mussten wir aus Platzgründen einige spannende Aspekte kürzen.

 

Frage: Herzlich Willkommen zum Streitgespräch über Ernährungssouveränität für das Magazin TIERBEFREIUNG. Könnt ihr euch zu Beginn bitte kurz vorstellen?

Siyah: Ich heiße Siyah Yesil. Ich bin für die Gruppe Animal Climate Action (AniCA) eingeladen worden. Ich selbst rechne mich der Klimagerechtigkeitsbewegung zu. Das bildet so ein bisschen meinen politischen Hintergrund des letzten Jahrzehnts ab. Zu Beginn war ich vornehmlich im Widerstand gegen den Braunkohleabbau in der Lausitz aktiv. Seit ungefähr sieben Jahren, ziemlich zeitgleich mit der Gründung von AniCA, habe ich mich verstärkt den Themen Landwirtschaft und Tierproduktion zugewendet. Ich lebe schon länger vegan. Die Situation der Tiere ist mir schon lange wichtig. Ich finde es entsetzlich, was in der Tierproduktion passiert. Ich verstehe mich aber nicht umstandslos als Tierrechtlerin oder Tierbefreierin.

Luca: Moin, ich bin 2016 über Klimacamps zu Ende Gelände dazu gestoßen, war da zwei, drei Jahre. Jetzt bin ich da nicht mehr aktiv, fühle mich aber auch der Klimagerechtigkeitsbewegung zugehörig. Ich studiere gerade ökologische Landwirtschaft. Auch wenn ich es super wichtig finde, gegen Kohle zu kämpfen, ist es der Landwirtschaftsbereich, wo mein Herzblut drinsteckt. Ich war die letzten Jahre sehr viel damit beschäftigt, ein Logistikgebiet in der Nähe von Witzenhausen zu verhindern, was erfreulicherweise sehr erfolgreich war. Immer wieder taucht in solchen Kontexten natürlich die Frage auf: Wie gehen wir mit Tieren um? Deswegen ist das auch eine Debatte, die mich schon länger begleitet. Ich fühle mich verbunden mit der Bewegung für Ernährungssouveränität, die in Deutschland noch ziemlich klein ist.

Lisa: Ich bin Lisa, komme aus NRW, bin aktiv bei den Tierbefreier*innen Bochum und im Bündnis Gemeinsam gegen die Tierindustrie (GgdT). Ich komme aus der Tierbefreiungs- und Klimagerechtigkeitsbewegung. Ich finde, die beiden Kämpfe sind nicht voneinander zu trennen. Ich spreche aber nicht für die beiden Gruppen, sondern als Einzelperson. Ich habe im letzten Jahr sehr viel Theoriearbeit gemacht – einmal in der Studie „Milliarden für die Tierindustrie“ und ich habe ein paar Hintergrundartikel und Recherchearbeit dazu gemacht, was Corona mit der Tierindustrie zu tun hat.

Janna: Hi auch von meiner Seite, schön hier zu sein. Ich fühle mich so wie Luca der Ernährungssouveränitätsbewegung zugehörig. Ich bin seit zwei Jahren aktiv im Netzwerk Nyéléni. Das versucht so ein bisschen, Austausch und Vernetzung der Aktiven für Ernährungssouveränität zu schaffen. Ich bin hier nicht für das Netzwerk, sondern als Einzelperson. Ich fühle mich auch stark mit den bäuerlichen Kämpfen des globalen Südens verbunden, unter anderem auch, weil ich Mitglied bei FIAN Deutschland bin – einer NGO, die sich für das Menschenrecht auf Nahrung einsetzt.

 

Was bedeutet für euch Ernährungssouveränität? Wie wird das Konzept in euren Gruppen oder in den Zusammenhängen, in denen ihr euch bewegt, diskutiert?

Luca: Für mich bedeutet das, sich auf die Kämpfe einzulassen, aus denen Ernährungssouveränität entstanden ist. Das ist ein bäuerlicher Kampf aus dem globalen Süden, der sich gegen neokoloniale Strukturen richtet und auch im Zuge der „globalisierungskritischen Bewegung“ sehr stark geworden ist. Bei dem Konzept der Ernährungssouveränität liegt der Fokus nicht nur auf dem Menschenrecht auf Ernährung, sondern demokratisch über die Art und Weise, wie Essen konsumiert, verteilt und produziert wird, zu bestimmen. Für mich ist relativ zentral, dass die Hauptakteur*innen diejenigen sind, die Lebensmittel produzieren.

Janna: Ernährungssouveränität bedeutet für mich auch, dass Menschen – sei es jetzt als Einzelpersonen, aber auch in Kollektiven, Konsumierende, aber auch diejenigen, die die Lebensmittel herstellen – wieder ihre Kontrolle über das Ernährungssystem zurückgewinnen. Dazu gehört für mich ganz klar, die Macht großer Konzerne zu brechen und die Interessen zurückzudrängen und unabhängiger von diesen agieren zu können. Im globalen Süden haben sich bäuerliche und landlose Communitys gegen die Interessen der privaten Industrie gestellt; gegen Landgrabbing oder die Dominanz von Saatgutkonzernen. Es ist aber auch die Einflussnahme auf Handelsbeziehungen sehr wichtig.

Lisa: Aus meiner Sicht gehört zur Ernährungssouveränität auch noch dazu, wie wir Generationengerechtigkeit schaffen können. Also, wie können wir Lebensmittel so produzieren, dass auch zukünftige Generationen noch leben können, und dabei möglichst das Leid für alle Lebewesen, die an dieser Produktion beteiligt sind oder direkt betroffen sind, minimieren. Wie schaffen wir, dass so produziert und verteilt wird, dass alle davon gut leben können und dass wir das alle gemeinsam mitgestalten können?

Siyah: Ich finde, es sind viele wichtige und richtige Sachen schon gesagt worden. Ich habe das Konzept als Gegenkonzept zur Ernährungssicherheit kennengelernt. Bei Ernährungssicherheit geht es darum, dass niemand verhungern soll. Die Konzerne haben sich den Diskurs angeeignet und haben gesagt: „Wir können mit unseren gentechnisch veränderten Pflanzen dafür sorgen, dass alle genug zu essen haben“. Sie nehmen so auch Einfluss auf Organisationen wie die WHO und FAO, also irgendwelche Agenturen der Vereinten Nationen. Ich habe da Ernährungssouveränität primär als Gegenkonzept zu dieser ganzen Misere gesehen, wo Ernährung nicht mehr nur als eine technische Frage gesehen, sondern auch in größerem sozialen und ökonomischen Kontext eingebettet wird. Es gibt aber auch Kritik von Links, weil der Begriff sehr unklar ist und keine analytische Kraft hat. Das würde ich ein Stück weit mittragen. Aber als Kampagnenbegriff ist er total wichtig und ermöglicht es, Landbesetzungen im globalen Süden und solidarische Landwirtschaft in Europa miteinander in Bezug zu setzen.

 

Vielen Dank für euren Input. Da ist ja schon sehr deutlich geworden, dass Ernährungssouveränität aus sehr unterschiedlichen Perspektiven gesehen werden kann.

Lisa: Ich wollte noch etwas dazu sagen, ob das Konzept in den Gruppen oder Zusammenhängen diskutiert wird. Das finde ich einen wichtigen Punkt. Im Bündnis GgdT ist das Thema ziemlich präsent. Beispielsweise hatten wir am Ende von der Studie, die wir rausgebracht haben, einen Katalog von verschiedenen Forderungen an Politik und Gesellschaft aufgestellt. In dem machen wir uns stark für eine Ernährungswende hin zu einer fairen, sozialen und möglichst ökologischen Produktionsweise. Dann gibt es in der Tierbefreiungs-/Tierrechtsbewegung noch diejenigen, die auch – zumindest im kleinen Stil – bio-vegane Landwirtschaft betreiben.

Siyah: Auch dazu, ganz kurz. Wir haben uns mit dem Konzept schon auseinandergesetzt und wir versuchen mit Nyéléni – die deutsche Adresse für Ernährungssouveränität – den Kontakt zu halten, an den Jahrestreffen teilzunehmen und da mitzudiskutieren. Wir beziehen uns darauf, es steht aber nicht im Zentrum unserer Arbeit. Was uns am wichtigsten ist, sind die sozialen Bewegungen und Kämpfe, aus denen das Konzept hervorgegangen ist, zum Beispiel die Landlosenbewegung in Südamerika.

Janna: Wenn ich jetzt mal vom Netzwerk Nyéléni spreche, da würde ich sagen: ja klar, Ernährungssouveränität ist das zentrale Konzept des Netzwerks. Es geht uns um eine Demokratisierung des Ernährungssystems. Das Netzwerk hat vor allem Austausch und Informationen zum Hauptziel. Wir versuchen Räume dafür zu schaffen, darüber zu sprechen, wo wir in Bezug auf Ernährungssouveränität stehen.

Luca: Ich würde kurz von der Ackerbesetzung erzählen (die zum Ziel hatte, ein Logistikgebiet zu verhindern). Da ist das Thema, wie wir verhindern, dass fruchtbarer Boden verloren geht, um darauf Landwirtschaft zu betreiben. Was ich für unsere Runde spannend fände, ist, darüber zu sprechen, dass es einfach eine unterschiedliche Perspektive ist, mit welcher Herangehensweise ich in so einen Kampf reingehe. Da gab es einen konventionellen Milchviehbetrieb, der direkt nebendran war. Zu dem Betrieb hatten wir nicht super gute Beziehungen, aber er war zumindest auch gegen das Logistikgebiet. Bei manchen Leuten, die auf der Besetzung waren, hatte ich Angst, dass sie eher auf die Idee kommen, die Tiere da freizulassen als sich mit dem Betrieb zu verbünden, um gemeinsam diesen Kampf zu führen. Das ist für mich der Punkt, wo ich manchmal meine Probleme mit der Tierbefreiungsbewegung habe, da für mich der bäuerliche Ansatz relativ zentral ist. Ich habe da auch meine Grenzen. Viele, die ich Bäuer*innen nennen würde, würde ich als nicht so bäuerlich einschätzen. Aber erst mal suche ich da eine Verbindung.

Siyah: Ich finde das Thema sehr spannend. Aus der Position, die ich habe, halte ich es gerade für uns für sinnvoll, diese Betriebe als kapitalistische Betriebe zu sehen und auch zu verstehen, dass die Bäuer*innen – gerade die kleinen/mittleren – unter extremem ökonomischem Druck arbeiten; dass das, was in den Ställen und auf den Äckern passiert, sehr stark aus ökonomischen Sachzwängen resultiert. Das hilft mir eigentlich sehr gut, die Menschen zu verstehen und nicht rein auf der moralischen Ebene von „Was macht ihr da mit den Tieren? Und mit der Umwelt? Und mit dem Grundwasser?“ zu bleiben, sondern zu sagen, ok das sind Sachzwänge, aber lasst uns mal ein Stück weiterdenken. Wenn wir es geschafft haben, an den Stellschrauben zu drehen, die diese Sachzwänge produzieren, dann entsteht eine gemeinsame Perspektive. Vielleicht ist es den Milchbäuer*innen auch nicht lebenswichtig, Milch zu produzieren, sondern in dem ökonomischen Rahmen, der ihnen praktisch gesteckt ist, Landwirtschaft zu betreiben. Wenn die Bäuerin oder der Bauer die Möglichkeit sieht, auch Pflanzenproduktion ökonomisch sinnvoll zu machen, dann ist das vielleicht auch für die Betriebe tatsächlich eine Option.

Lisa: Aus Sicht der Gruppen, in denen ich aktiv bin, ist insbesondere – aber nicht nur – die industrielle Tierhaltung zum Großteil dafür verantwortlich, dass wir uns überhaupt in dieser Ernährungssituation befinden – aufgrund des Landverbrauchs, des Ressourcenverbrauchs und auch aufgrund der Produktionsweise, also wie dort mit fühlenden Lebewesen umgegangen wird. Deshalb gibt es auch Aktionsformen, wie beispielsweise Blockaden von Schlachthöfen, um dort die Produktion in den Vordergrund zu rücken. Luca hatte ja den Vorwurf gemacht, dass da nicht unbedingt auf Landwirt*innen zugegangen wird. Bei GgdT gab es eine AG, die sich damit auseinandergesetzt hat, wie wir im Vorfeld mit Landwirt*innen kommunizieren können. Wie können wir es schaffen, Anreize für eine Transformation industrieller Tierhaltung zu setzen – also raus aus dieser Produktionsweise, in der die Betriebe gerade stecken, hin zu einer Produktion, die unter Selbstverwaltung der Arbeiter*innen stattfindet, wo keine Lebewesen ausgebeutet werden.

 

Bisher ging es ja viel um bäuerliche Perspektiven. In der Landwirtschaft arbeiten ja aber auch sehr viele Arbeiter*innen, wie steht es mit deren Perspektive?

Lisa: Während Corona gab es viele Ausbrüche in Schlachtbetrieben. Da gab es aus der Tierbefreiungsbewegung, aber auch aus der Arbeiter*innen-Bewegung, verschiedenste Protesttage, zum Beispiel Blockadeaktionen bei Tönnies. Im Mai letzten Jahres gab es deutschlandweite Aktionstage in Solidarität mit den Arbeiter*innen. Viele der Arbeiter*innen kommen aus Osteuropa, haben nur Werkverträge und müssen unter ganz schlechten Bedingungen arbeiten. Wir wollen diese Menschen in die Ernährungswende miteinbeziehen und mit ihnen zusammen für faire und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

Luca: Die Frage nach Gewerkschaften finde ich in dem Kontext sehr wichtig. Ich bin sehr froh, dass die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) da jetzt aktiv geworden ist, was die Bedingungen in den Schlachthöfen angeht, und da auch schon Teilerfolge erzielen konnte. Fast ein bisschen prekärer oder ähnlich beschissen ist es auf den Spargel- oder Erdbeerfeldern. Da gibt es zumindest Initiativen von der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IGBAU) zu fairer Mobilität. Da geht es um Menschen, die nicht das ganze Jahr in Deutschland sind, hier aber in der Landwirtschaft arbeiten und auch ausgebeutet werden. Solche Kämpfe würde ich immer mit im Kontext von Ernährungssouveränität begreifen. Ich finde, dass Ernährungssouveränität auf jeden Fall ein guter Ansatz ist, weil er aus Kämpfen kommt, die sich dagegen wehren, in diese Lohnarbeitsverhältnisse reinzukommen.

Janna: Ich will anschließen, dass es ja unglaublich wichtig ist, dass mehr Menschen in der Landwirtschaft arbeiten, dass wir auch wieder mehr Bäuer*innen in Deutschland haben – auch vor den Zahlen des Höfesterbens und kleinerer Betriebe. Deshalb finde ich es mega wichtig, Bedingungen dafür zu schaffen, dass landwirtschaftliche Praxis wie Gemüsebau, Ackerbau, meinetwegen auch Tierhaltung, wieder für mehr Menschen attraktiv wird, vor allem für junge Menschen. Da ist der Zugang zu Land in Deutschland etwas sehr Zentrales. Da gibt es auch mehrere Projekte, die sich bei Nyéléni vernetzten, zum Beispiel das Ackersyndikat oder auch Landkaufgenossenschaften wie die BioBoden-Genossenschaft. Da geht es darum, dass das Land in Allgemeineigentum überstellt, also als Verein gekauft, und dann zu fairen Konditionen langfristig an Bäuer*innen verpachtet wird. Der Zugang zu Land-Ressourcen ist ein ganz zentraler Kampf von Ernährungssouveränität.

Siyah: Die Frage ist, wie lassen sich die Verhältnisse in der Landwirtschaft – die ich auch nicht idealisieren möchte – transformieren in kollektive, selbstverwaltete Formen von Landwirtschaft? Zu dem, was Janna gesagt hat: Der Begriff Ernährungssouveränität ist sehr unscharf und wir schmeißen gerade zwei Sachen zusammen, die total unterschiedlich sind. Das eine ist eine traditionelle Subsistenzwirtschaft und das andere ist der Wunsch von Menschen aus Europa, aus der Lohnarbeit rauszukommen und einen selbstständigen kleinen oder mittelständischen Betrieb zu gründen. Das ist für mich im Kapitalismus anzukommen, aber nicht auf der Lohnarbeitsseite, sondern auf der Kapitalseite. Das sehe ich nicht als einen emanzipatorischen Prozess, weil klar ist, die Mehrheit muss immer lohnabhängig bleiben, damit wenige zur Kapitalseite wechseln können. Was mich interessiert sind kollektive Formen der Landwirtschaft – jenseits von Kapitalismus, aber auch Markt und Patriarchat. Ich finde es total wichtig, das auseinanderzuhalten.

Luca: Ich glaube schon, dass es innerhalb des Kapitalismus die Möglichkeit gibt, da rauszukommen. Ich finde es aber spannend, mal an einem konkreten Beispiel zu diskutieren. Zum Beispiel hat sich die Kommune Schafhof vor ein, zwei Jahren gegründet und ist dabei, zusammen mit dem Ackersyndikat, einen Hof zu übernehmen und ihn als Kollektiv weiterzuführen. Das ist ein linkes Kollektiv, was versucht aus dem System auszusteigen. Nur steigen die halt nicht aus der Tierhaltung aus. Ich glaube, dass die Debatte spannend ist, weil sie zeigt, wo wir (in unseren Gruppen) ansetzen. Gibt es da die Möglichkeit, dass es ein Nebeneinander und unterschiedliche Wege gibt? Können solche Betriebe Teil von Klimagerechtigkeit sein, obwohl es daneben radikale vegane Positionen gibt?

Janna: Ich fände es spannend, darüber zu sprechen und zu überlegen, inwiefern flächengebundene Tierhaltung ein erster Schritt sein könnte, was ja eine Forderung ist von vielen Verbänden, zum Beispiel beim Klimaschutzpapier, im Kontext des Klimaschutzkonzepts der Bundesregierung bei der Bundestagswahl. Sowohl bäuerliche Orgas als auch Umweltschutzverbände fordern dort eine flächengebundene Tierhaltung und eine Reduktion der Tierbestände, aber keinen Ausstieg aus der Tierhaltung.

Siyah: Mit der Forderung nach Flächengebundenheit bin ich selber ein bisschen unglücklich. Das ist für mich eine ideologische Nebelkerze. Jedes Land darf entsprechend den natürlichen Möglichkeiten Tierproduktion betreiben. Länder, die besser aufgestellt sind, essen dann mehr Fleisch und trinken mehr Milch als Länder, die schlechter ausgestattet sind – ein Problem, was in dem Ernährungssouveränitätskonzept als Gefahr drinsteckt. Ich würde lieber sagen, Klimagerechtigkeit erfordert einen weitgehenden Ausstieg aus der Tierproduktion. Natürlich muss auf die lokalen Gegebenheiten geachtet werden und es muss Alternativen geben. Ich finde es besser, wenn wir die Wahrheit sagen und gleichzeitig Sachen stehen lassen können.

Lisa: Generell denke ich, dass es gut ist, wenn mehr Aufklärungsarbeit gemacht wird und sich mehr Menschen mit den Folgen des Klimawandels auseinandersetzen. Dann könnte es sein, dass wir am Ende zumindest eine sehr starke Reduktion (von Tierhaltung) schaffen würden, was ich persönlich gut fände. Für mich beinhaltet Ernährungssouveränität, dass wir überlegen, was mit zukünftigen Generationen ist. Tierproduktion hat nun mal aus ernährungstechnischer Sicht den größten Impact auf die Natur und das Klima. Deshalb fände ich es wichtig, dass wir da gemeinsam gucken, wie wir das schaffen können.

 

Welche Rolle spielt denn für euch Tierproduktion in Hinblick auf Ernährungssouveränität?

Luca: Wir können auch ohne Tiere und Tierprodukte leben, aber es macht in meinen Augen in manchen Agrarsystemen Sinn, Tiere zu nutzen. Ich finde, es ist eine legitime Entscheidung eines Kollektivs zu sagen, wir wirtschaften auch mit der Haltung von Tieren. Da unterscheide ich mich von Menschen, die eine Tierbefreiungsposition haben. Trotzdem sehe ich einen sehr starken gemeinsamen Kampf mit einem bio-veganen Kollektiv, das sagt, wir müssen all die uns beherrschenden Strukturen im Ernährungssystem zurückdrängen. Ich glaube, dass dieses Zurückdrängen einen sehr starken kollektiven Kampf braucht. Wir können es uns nicht leisten, uns anhand der Frage, ob in der Utopie auf manchen Betrieben noch Tiere gehalten werden oder nicht, zu zerstreiten. Ich finde einen Fokus auf Tierindustrie sinnvoll. Ich glaube auch, dass man da strategisch zusammenarbeiten kann, aber das braucht ganz viel Sensibilität. Deshalb finde ich die Forderung nach flächengebundener Tierhaltung auf dem Weg zu einer Transformation auch einen durchaus pragmatischen Schritt. Dann wäre ein Großteil der industriellen Tierhaltung, die sich komplett von der Fläche entkoppelt hat, in der Form wie sie heute ist, nicht mehr möglich.

Janna: Ich finde, das Recht auf Nahrung schließt auch das Recht auf kulturell angepasste Nahrung mit ein. Ich denke auch in Bezug auf Tierhaltung, dass es einfach für verschiedene Gebiete und Regionen der Welt noch auf lange Zeit so sein wird, dass sie auch Tiere essen. Es gibt ja auch unglaublich viele Fischer*innen und Nomad*innen auf der Welt. Wenn wir hier einen Komplettausstieg aus der Tierhaltung machen, dann wird das nicht in allen Ländern auf der Welt passieren.

Siyah: Natürlich bedeutet die flächengebundene Tierhaltung für Deutschland eine Reduktion. Das finde ich gut. Ich hatte ja schon gesagt, dass die weitgehende Abschaffung der Tierproduktion meiner Ansicht nach aus Klimagerechtigkeitsperspektive der Weg ist, den wir gehen sollen. Ich sage extra weitgehend. Wir als Gruppe fordern die Abschaffung der Tierproduktion. Klar wird der Anfang kleiner sein. Das wichtigste ist natürlich, dass es Produktionsalternativen an verschiedenen Orten gibt und dass die auch selbstgewählt umgesetzt werden. Wir wollen kein Diktat aus dem reichen Norden und unsere Kämpfe auf die Situation im globalen Süden projizieren. Die Frage, ob Menschen Tiere essen oder nicht und ob das schnell vorbei sein wird, ist erstmal Spekulation. Ich glaube, wir haben wenig auf dem Schirm, wie viele Menschen auf der Welt sich überwiegend pflanzlich ernähren, wie gering die Rolle der Tierprodukte zur Welternährung ist. Es ist wichtig, dass wir mit den Bäuer*innen im globalen Süden solidarisch sind, aber wir müssen aufpassen, da nicht alles Mögliche hineinzuprojizieren. In Gesprächen habe ich es schon öfter erlebt, dass Leute mir stundenlang was über indigene Kulturen erzählen, um damit zu rechtfertigen, dass sie bei Aldi Tiefkühlfleisch kaufen. Was Tierproduktion angeht, müssen praktisch beide Seiten genau hinschauen, bevor sie den globalen Süden ins Feld führen.

 

Wir könnten uns hier vermutlich noch den ganzen Tag unterhalten, ohne dass uns die Themen ausgehen. Als Abschlussfrage wollten wir noch wissen: Ihr alle kämpft ja gegen große Konzerne, die Bäuer*innen vertreiben, Arbeiter*innen ausbeuten, das Klima zerstören und Tiere unterdrücken. Warum tut ihr euch nicht zusammen? Gibt es für euch einen Konsens, auf den ihr euch einigen könntet?

Luca: Ein Aspekt, wo wir ziemlich gut zusammenkommen können, wäre ein sofortiges Verbot von Importen von Futtermitteln. Die setzen gerade in Lateinamerika die bäuerlichen Bewegungen enorm unter Druck, weil sie zu einer krassen Flächenkonkurrenz führen, häufig gentechnisch verändert sind, Regenwaldrodung vorantreiben und so weiter. Die Themen sind ja bekannt. Ich glaube, dass es auch aus bäuerlichen Perspektiven sehr große Zustimmung gibt. 2019 hat die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) eine Blockade von einem Futtermittelhafen in Brake (Niedersachsen) organisiert. Ich glaube, dass an solchen Stellen ziemlich gut gemeinsam Druck gemacht werden könnte. Ich finde es schade, dass AniCA dann einfach sagt: „Wir sind für die Abschaffung der Tierproduktion.“ Da müsst ihr euch klar sein, dass einige bäuerliche Leute nicht mit euch zusammenarbeiten. Diese Position schließt in einer gewissen Weise auch eine strategische Zusammenarbeit aus.

Janna: Sich gemeinsam für das Verbot von Importen von Futtermitteln und gegen das Mercosur-Abkommen einzusetzen und gemeinsame Kritik an Bayer, an Futtermittelkonzernen, Molkereien, aber auch Schlachthöfen zu üben, finde ich super wichtig. Dabei finde ich es wichtig, dass vor allem bäuerliche Akteur*innen mehr mit Akteur*innen der Tierbefreiungsbewegung und der Bewegung gegen industrielle Tierhaltung zusammenkommen.

Siyah: Ich hoffe, dass es auch weiterhin in den sozialen Bewegungen so etwas wie einen linken Grundkonsens gibt, der dann auch immer wieder verhandelt wird.

Lisa: Ich finde es auch voll wichtig, dass wir uns zusammensetzen. Selbst wenn wir in unseren Grundpositionen vielleicht nicht unbedingt übereinstimmen, heißt das ja nicht, dass wir uns nicht zusammen gegen ausbeuterische Konzerne stellen können. Es spricht ja auch nichts dagegen, wenn wir alle unsere Positionen klar benennen. Wir können trotzdem sagen, ok, hier an dem Punkt haben wir eine Übereinstimmung, deshalb gehen wir zusammen auf die Straße und kämpfen dafür, dass wir die Großkonzerne vergesellschaften und zu einer lokalen, ökologischen und nachhaltigen Produktionsweise hinkommen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Text: Marcus Siebert
aus: Tierbefreiung 112 / September 2021
Beitragsbild: Demo von AniCA und ASEED gegen die Futtermittelindustrie anlässlich der Klimakonferenz in Bonn 2017 (Bericht)