Und sie handeln doch…

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Tierliche Agency – Der Versuch einer Einführung

Eine Kuh bricht aus einem Schlachthof aus. Eine Schimpansin erlernt Zeichensprache. Rabenvögel merken sich die Gesichter von Menschen. Schweine spielen Computerspiele. Was haben diese Beispiele gemeinsam? Sie haben das Potential, die bisherigen Grenzziehungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren stark in Frage zu stellen.

Einleitung

Seit der europäischen Antike haben Denker[1] immer wieder Parameter entwickelt, um Grenzen zwischen Menschen und zwischen Menschen und anderen Tieren zu konstruieren. Angefangen mit Aristoteles über verschiedenste christliche Denker bis hinzu Descartes, immer wieder wurde aus verschiedensten Begründungen eine Höherstellung des Menschen gegenüber anderen Tieren angenommen und aus ideologischen Gründen bestätigt.

Eine weitverbreitete beziehungsweise weitbekannte Annahme, die zur Grenzziehung zwischen Menschen und anderen Tieren herangezogen wurde (und wird), ist die der Sprachfähigkeit. Bereits der antike Philosoph Aristoteles nutzte diese Form der Grenzziehung. Er teilte dabei den Menschen den „Logos“, also die Sprachfähigkeit, zu. Den anderen Tieren schrieb er „Phone“ zu. Phone kann dabei als reine Lautäußerungen verstanden werden. Dadurch, dass Menschen über den Logos verfügen würden, könnten auch nur sie an den Gemeinschaften beteiligt sein. Andere Tiere könnten sich nicht artikulieren und somit nicht Teil politischer Auseinandersetzungen sein. Verbunden mit der Zuschreibung der „Sprachlosigkeit“ der Tiere sind dies weitere Ausschlussansätze.[2] Die Human-Animal Studies (HAS)[3] versuchen in den letzten Jahren einige dieser Ausschlusskriterien zu hinterfragen und eigene Ansätze entgegenzusetzen.

Die Agency-Debatte in den Human-Animal Studies

Die Debatte um die ‚Agency‘ von nichtmenschlichen Tieren verläuft in den HAS nicht einheitlich und kann auch je nach wissenschaftlichem Zugang unterschiedlich definiert und gebraucht werden. Im Folgenden soll daher versucht werden, die Debatten ein wenig nachzuzeichnen. Dabei werde ich mich vor allem auf das Werk „Das Handeln der Tiere“ beziehen, welches im Jahr 2016 von Sven Wirth, Anett Laue, Markus Kurth, Katharina Dornenzweig, Leonie Bossert und Karsten Balgar herausgegeben wurde.[4] Ein erstes Problem in der Diskussion um tierliche Agency ist die Schwierigkeit, einen passenden Begriff in der deutschen Übersetzung zu finden. Agency kann beispielsweise als „Handlungsmacht“ oder „Wirkmacht“ übersetzt werden. Der erstgenannte Begriff bezieht sich dabei auf ein aktives und gewolltes (intentionales) Handeln, der letztere eher auf die Auswirkungen von Handlungen, die auch ohne eine Intention auskommen. Ein weiteres grundlegendes Problem scheint zu sein, dass die bisher genutzten und definierten Agency-Begriffe vornehmlich auf die menschliche Sphäre angewandt wurden und werden. Weiterführende Agency-Begriffe hingegen beziehen auch die Wirkmacht nicht-lebender Entitäten mit ein, so beispielsweise Mineralien. Innerhalb dieser Ansätze werden nichtmenschliche Tiere zwar mitgedacht, jedoch haben sie hier ungefähr denselben Stellenwert wie Steine oder ein Vulkanausbruch. Beide Herangehensweisen, die einfache Übertragung von Agency-Konzepten, die für menschliche Gesellschaften erdacht wurden, als auch die Ideen, in denen nichtmenschliche Entitäten mitgedacht werden, werden meines Erachtens der Agency von nichtmenschlichen Tieren nicht gerecht. Doch schauen wir noch etwas detaillierter in die HAS und die Debatten rund um tierliche Agency.

Subjekttheoretische Handlungsmodelle

Klassische Handlungstheorien versuchen zu erklären, was Handeln eigentlich ist, wie es beschrieben werden kann und wie es zu erklären ist. Dabei stehen hauptsächlich die Gründe des Handelns, also die Intention, im Mittelpunkt. Problematisch dabei ist, dass die inneren Zustände anderer Lebewesen – menschlich oder tierlich – im Prinzip nicht zugänglich sind. Soll das Handeln eines Gegenübers erklärt werden, dann muss diesem eine Intention zugesprochen werden. Die Interpretation einer Handlung wird im menschlichen Kontext dabei scheinbar ohne Probleme durchgeführt. Nichtmenschlichen Tieren wird eine Intention (meist) abgesprochen. Tiere würden eher instinktiv handeln und keine (überlegten) Beweggründe für ihre Handlungen haben. Gekoppelt mit der Intention einer Handlung ist dabei häufig die Fähigkeit der Vernunft. Bereits seit Aristoteles wird nichtmenschlichen Tieren dabei Vernunft abgesprochen. Weiterhin in Verbindung damit steht die Idee des (vernünftigen) Subjektes. Auf die Spitze trieb dies René Descartes, „der als einer der Begründer der neuzeitlichen Subjekttheorie gilt.“[5] Er sprach nichtmenschlichen Tieren jegliche Fähigkeit ab, Schmerzen zu empfinden. Vielmehr stellte er sie auf die Ebene eines Automaten. Beispielsweise beschrieb er, dass nichtmenschliche Tiere, wenn ihnen Schmerzen zugefügt würden, keine Schmerzensschreie von sich geben würden. Die Äußerungen der Tiere wären vielmehr vergleichbar mit dem Quietschen eines Automaten.

Die Handlungstheorien der entstehenden Soziologie folgen zwar nicht der cartesianischen Automatenlogik, sind aber trotzdem sehr anthropozentrisch ausgerichtet. „Dies ist entweder Folge eines rationalistischen Handlungsmodells, aus dem nichtmenschliche Tiere per Festlegung ausgeschlossen werden, oder es ist die Folge der Einschränkung des Gegenstandsbereiches der eigenen Theorien auf die menschliche Sphäre“.[6] Beispielsweise sind die Konzepte des Soziologen Max Weber so eng gefasst, dass sie soziales Handeln nur in der Sphäre des Menschen verorten. Birgit Mütherich konstatiert daraus folgend, dass in der klassischen Soziologie eine Gegenüberstellung des Handelns von Menschen und tierlichem Verhalten konstruiert wird. Ersteres sei dabei ein „vernunftgeleitetes, sinnhaftes, intentionales, zweckorientiertes, aktives und auf der Basis von internalisierten Symbol-, Wert- und Normensystemen“ basierendes Verhalten. Tierliches Verhalten im Gegensatz dazu wäre spontan, unbewusst, reflexartig „und durch Trieb- und Instinktleistung gesteuertes Reagieren auf Umweltreize.“[7] Das Handeln nichtmenschlicher Tiere wird hier auf ein Reiz-Reaktions-Schema reduziert und dadurch aus dem Kreis der handelnden Subjekte ausgeschlossen. Doch wie sieht es mit anderen Zugängen zu (tierlicher) Agency aus?

Debatten über Handlungskapazitäten

„Die theoretischen Ansätze der modernen Subjektphilosophie sehen Agency als essentielle Eigenschaft von Subjekten, als individuelles Vermögen. Menschen handeln absichtsvoll, weil sie Menschen; ihr Handeln gestaltet die Welt.“[8] Nichtmenschlichen Tieren wird in diesen Kontexten sowohl der Subjektstatus abgesprochen als auch eine gewollte Veränderung ihrer Umwelten. In einigen soziologischen Perspektiven wird aber die Rolle des handelnden Subjektes stark eingeschränkt. „In diesen Erklärungen wird das individuelle Handeln als durch die Gesellschaftsstruktur begrenzt dargestellt oder gar als einseitiger Effekt der Übernahme gesellschaftlicher Normen definiert.“[9]

Jedoch gibt es durchaus auch Ansätze, die es ermöglichen, nichtmenschliche Tiere in die (soziologische) Analysen einzubeziehen. Einer dieser Ansätze nennt sich Praxeologie. Dabei wird die Intention einer Handlung in den Hintergrund gerückt. Vielmehr wird der Vollzug von Handlungen als körperliche Praktik verstanden. Damit lassen sich auch Handlungen von nichtmenschlichen Tieren in die Untersuchungen sozialer Systeme einbeziehen. Kurzum ließe sich sagen: „Eine Unterscheidung von Handeln und Verhalten wird irrelevant, entscheidend ist, dass das Individuum die Kapazität besitzt, eine Handlung auszuführen“.[10]

Einen weiteren Schritt geht die sogenannte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Sie nimmt einen posthumanistischen Standpunkt ein und ermöglicht es dadurch, auch nichtmenschliche Entitäten einzubinden. Jedoch ist auch die ANT nicht zwingend geeignet, tierliche Agency explizit in die Debatte um Agency einzubinden: „Leider bietet uns die ANT nur unzureichende Anknüpfungspunkte, um uns explizit tierlicher Agency nähern zu können. Nichtmenschliche Tiere werden lediglich beiläufig in das theoretische Instrumentarium integriert.“[11] Daraus folgend werden nichtmenschliche Tiere häufig trotzdem als Negativfolie herangezogen „[o]der sie haben lediglich einen Beispielcharakter und werden nicht weitergehend sozialtheoretisch untersucht“.[12] Es gibt jedoch auch Wege, tierliche Agency weiterzudenken. Ein Beispiel dafür sind die theoretischen Debatten rund um den New Materialism (Neuen Materialismus).

New Materialism

Im posthumanistischen Ansatz des New Materialism wird Agency weitergedacht und als ständig im Werden begriffen. Wie bereits in der ANT wird auch im New Materialism der Schwerpunkt weg von der Intention eines Handelns hin zu den Effekten von Agency innerhalb eines Netzwerks verschoben. Ein zentrales Moment des Neuen Materialismus ist dabei, dass der Fokus auf Sprache beziehungsweise Sprachfähigkeit im menschlichen Sinne verworfen wird. Vielmehr ist Materialität und auch Körperlichkeit ein zentraler Untersuchungsansatz. Der lange bestehende Dualismus zwischen Diskurs/Sprache und Materialität soll aufgehoben werden. Die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway etablierte dafür das Konzept der ‚materiell-semiotischen Knotenpunkte‘. Damit verweisen sie und ihre Nachfolger*innen auf die Verwobenheit von Diskursen und Materialität. In einem politischen Sinne interveniert der New Materialism in weitere dualistische Denkmuster, wie beispielsweise der Trennung von Kultur und Natur. Somit können die Ansätze dieses Neuen Materialismus auch auf den Mensch-Tier-Dualismus Anwendung finden. Innerhalb dieser Konzepte wird Materialitäten eine Agency zugeschrieben. Es wird nicht mehr nur auf ein intentional handelndes Subjekt verwiesen, vielmehr könnten auch ‚unbelebte‘ Dinge Agency aufweisen. Jane Bennet, eine Vertreterin des Neuen Materialismus, führt beispielsweise Tsunamis oder Mineralien in ihren Forschungen an. Diese hätten durch ihre ‚Anwesenheit‘ in einem Netzwerk direkten (oder auch indirekten) Einfluss auf das Handeln von Menschen, wenn beispielsweise ein Tsunami auf menschliche Gesellschaften wirkt und die Situation stark verändert und Menschen (und andere Tiere) sich zu diesem Ereignis verhalten müssen. Für die Mensch-Tier-Verhältnisse scheint dies ein erster Ansatz zu sein, um auch nichtmenschlichen Tieren Agency zuzuschreiben. Jedoch fällt es auf der anderen Seite schwer, nichtmenschliche Tiere einfach unter die Kategorie der Materialität zu fassen. Denn dadurch besteht die Gefahr, dem eigentlich abzulehnenden Bild, welches nichtmenschliche Tiere im vorherrschenden Diskurs als „nicht-intentionale[…] Naturdinge“ konstruiert, zu verfallen.[13] Doch welche Auswege geben uns die Debatten in den HAS an diesem Punkt.

Tierliche Agency in den HAS

„Betrachten wir die verschiedenen hier diskutierten Konzepte und Ansatzpunkte von Agency in ihrer Gesamtheit, wird deutlich, dass keine davon tierlicher Agency angemessen ist“.[14] Wenn beispielsweise der Begriff der Intention als Ausgangspunkt der Frage nach tierlicher Agency gewählt wird, steht die Frage im Raum, welche Formen der Intention es bei unterschiedlichen Spezies gibt.

Dabei ist es durchaus berechtigt, so meine Einschätzung, nichtmenschlichen Tieren gezieltes und beabsichtigtes Handeln zuzuschreiben.

Schließlich verändern nichtmenschliche Tiere ihre eigenen Umwelten, nutzen Werkzeuge, um Werkzeuge herzustellen und kommunizieren miteinander in komplexen Systemen. Häufig wurde nichtmenschlichen Tieren auch ein Erkennen ihrer selbst abgesprochen, eine sogenannte „Ich-Evidenz“. Für einige Spezies wurde dies bereits relativiert, da sie den sogenannten Spiegeltest bestanden haben. Hierbei wird einem/einer Proband*in ein Punkt auf die Stirn gemalt und anschließend ein Spiegel bereitgestellt. Betrachten sich die Individuen länger als im Normfall im Spiegel oder berühren die Stelle, an der der Punkt angebracht wurde, wird ihnen ein Verständnis von sich selbst zugesprochen. Jedoch ist diese Form des Tests ungenügend, da es Spezies (zum Beispiel Gorillas) gibt, bei denen ein längerer Blickkontakt als Aggression gewertet wird – warum sollten sie sich also im Spiegel betrachten? Außerdem gibt es je nach individueller Ausrichtung Unterschiede bei Individuen. So gab es Experimente mit Elefant*innen, bei denen einige den Spiegeltest „bestanden“ haben, andere jedoch nicht. Vielleicht interessieren sich einige der Elefant*innen weniger für ihr Aussehen als andere. Weiterhin funktioniert der Spiegeltest auch nicht in allen menschlichen Kulturen. In einigen sozialen Gruppen ist der Blickkontakt zu anderen Menschen ebenfalls selten, hier „bestehen“ einige Kinder den Test auch nicht.[15] Wir würden ihnen jedoch nie den Status eines Subjektes und das Verständnis eines „Ichs“ absprechen.

Ähnliches gilt für das Verwenden von Sprache. Nichtmenschlichen Tieren wurde die Sprachfähigkeit lange abgesprochen. Auch hier gibt es jedoch bereits Ansätze, die andere Wege gehen. So zeigten beispielsweise Experimente mit Menschenaffen oder Graupapageien, dass diese durchaus in der Lage sind, menschliche Sprachsysteme zu erlernen.[16] Und auch innerhalb tierlicher Spezies sind es nicht etwa nur ‚Geräusche‘, die ausgetauscht werden, vielmehr konnten Forscher*innen in den letzten Jahren komplexe Strukturen der Kommunikation bei einigen Spezies feststellen.[17] Wenn auch diese Experimente mit (und an) nichtmenschlichen Tieren viele Fähigkeiten einzelner Spezies erst aufzeigen, muss jedoch trotzdem auf die Rahmenbedingungen dieser Experimente verwiesen werden. Diese sind von einem Machtgefälle geprägt und die nichtmenschlichen Tiere suchen sich die Experimente, vor allem wenn sie in Laboren stattfinden, nicht aus. So entbrach eine Diskussion um die bereits erwähnte Donna Haraway, als diese einen Text publizierte, in dem sie sogenannte Labormäuse als „co-workers“ im Tierversuch bezeichnete. Haraway, die selbst keine Tierrechts- oder Tierbefreiungsposition einnimmt, konstatierte in diesem Text, dass innerhalb eines Tierversuchs nichtmenschliche Tiere gewisse Freiheitsgrade besitzen würden und sie Einfluss auf das Experiment selbst hätten. Ganz abzustreiten ist dies wahrscheinlich nicht, jedoch wurde ihr, meiner Einschätzung nach zu Recht, der Vorwurf gemacht, sie würde die Machtkonstellationen innerhalb eines Tierversuchs zu wenig berücksichtigen.[18] Nichtmenschliche Tiere beeinflussen Experimente durch ihre eigene Agency, sie leisten auch immer wieder Widerstand gegen Experimente und auch gegen die Tierhaltung an sich. Jedoch ist die Machtposition der Menschen meist die stärkere und dies muss in eine Analyse tierlicher Agency mitgedacht werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die meisten bisherigen Agency-Konzepte nicht zwingend auf tierliche Agency angewendet werden können. Einerseits, weil die klassischen Konzepte den Mensch so stark zentrieren, dass nichtmenschliche Tiere per se als Abgrenzungsfolie zum Menschen genutzt werden. Andererseits, weil die Gefahr besteht, dass posthumanistische Ansätze (ANT, New Materialism) nichtmenschliche Tiere wiederum nur auf ihre Körperlichkeit reduzieren und ihnen damit intentionales Handeln absprechen können. Auf dem Gebiet der tierlichen Agency besteht also noch viel Forschungs- und Theoretisierungsbedarf.

Und die Tierbefreiungsbewegung?

Was bedeutet es für die Tierbefreiungsbewegung, wenn Aktivist*innen tierliche Agency – tierliches Handeln und tierlichen Widerstand – ernst nehmen und in ihre Arbeit integrieren? Da im deutschsprachigen Raum dazu bisher wenig gearbeitet wurde, muss dieser Ausblick verkürzt und unvollständig bleiben.

Die Tierbefreiungsbewegung strebt eine Welt an, in der auch die Bedürfnisse von nichtmenschlichen Tieren Beachtung erfahren. Tiere sollen in ihrer Individualität anerkannt werden und aus den bisherigen herrschaftsförmigen Verhältnissen herausgelöst werden. Dabei muss auch die Darstellung von nichtmenschlichen Tieren, die in unserer Gesellschaft lediglich als ‚Ware‘ oder ‚Ding‘ angesehen werden, verändert werden. Dabei kann der Ansatz der tierlichen Agency hilfreich sein. Bisher muss jedoch für den deutschsprachigen Raum festgestellt werden, dass diese Ansätze kaum genutzt werden. Häufig werden nichtmenschliche Tiere auf ihre Leidensfähigkeit reduziert. Dies ist angesichts der herrschenden Umstände, in denen nichtmenschliche Tiere ausgebeutet und ermordet werden, verständlich. Jedoch werden Tiere dadurch auch oft als passiv den Zuständen ausgelieferte Wesen konstruiert. Dies zeigt sich beispielsweise in Slogans, wie „Wir sind die Stimme der Stimmlosen“. Dabei sind nichtmenschliche Tiere keineswegs stimmlos, sie ‚sprechen‘ lediglich andere Sprachen als Menschen. Den Schreien der Tiere Gehör zu verschaffen würde nichtmenschliche Tiere weniger passiv darstellen.

Wenn auch klar sein dürfte, dass nichtmenschliche Tiere Fürsprecher*innen brauchen, um aus ihrer elenden Situation herauszukommen, sollten, so meine Einschätzung, Tierbefreiungsaktivist*innen sie als handelnde Subjekte und nicht lediglich als ‚Objekte der Befreiung‘ beschreiben.

Eine Möglichkeit bietet dabei ein Blick auf tierlichen Widerstand. Nichtmenschliche Tiere brechen aus den Orten ihrer Gefangenschaft aus und sie wehren sich gegen ihre Behandlungen: Menschenaffen, die in Zoos eingesperrt wurden und kollektiv fliehen; Schweine, die vom Tiertransporter springen, um zu fliehen; Kühe, die aus Schlachthäusern ausbrechen. Dies sind nur einige Beispiele für tierlichen Widerstand im tierindustriellen Komplex. Der Autor* Fahim Amir beispielsweise geht davon aus, dass der heute vorzufindende tierindustrielle Komplex Ausdruck dessen ist, dass nichtmenschliche Tiere Widerstand leisteten. Die heutigen Anlagen sind, so seine Einschätzung, darauf zurückzuführen, dass nichtmenschliche Tiere widerständig gegen ihre Ausbeutung waren und Menschen auf diesen Widerstand mit immer feingliedrigeren Anlagen der Ausbeutung reagierten.[19] Weiterhin gibt es bereits Orte, an denen die tierliche Individualität und ihre Agency beobachtet werden können: Lebenshöfe. Sie könnten auch Orte sein, an denen der Öffentlichkeit gezeigt werden kann, dass jedes Tier seinen eigenen Kopf, eigene Vorlieben und Abneigungen hat und mit anderen Wesen in Kontakt tritt. Vielleicht sind Lebenshöfe bereits kleine Vorboten einer Gesellschaft, in der das individuelle Handeln von nichtmenschlichen Tieren ernstgenommen wird. Dies kann auch für die Konstruktion einer Zukunftsvorstellung einer Multi-Spezies-Gesellschaft dienen, in der alle tierlichen Lebewesen ein gutes Leben führen können.

Nichtmenschliche Tiere sind eben keine Maschinen und sie haben eigene Agency. Lasst sie uns ernstnehmen in ihren Bedürfnissen, damit eine Welt für alle geschaffen werden kann, die ein gutes Leben für alle schafft!

Text: Tom Zimmermann
aus: Tierbefreiung 111 / Juni 2021
Beitragsbild: Andre Mouton (https://unsplash.com/photos/84oiI1wT4zU)

 

[1] An dieser Stelle wird auf das Gendern verzichtet, da es in der europäischen Ideen- und Kulturgeschichte hauptsächlich männlich gelesene Personen waren, die verschiedenste Formen der Grenzziehungen zwischen Menschen und zwischen Menschen und anderen Tieren konstruierten.
[2] Für einen Einblick in die Geschichte der Grenzziehung über die Sprachfähigkeit: Kurth, Markus: Von mächtigen Repräsentationen und ungehörten Artikulationen – Die Sprache der Mensch-Tier-Verhältnisse. In: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Bielefeld. 2011. S. 85-119.
[3] Human-Animal Studies wird im folgenden Text als Sammelbegriff verwendet, trotz der unterschiedlichen Perspektiven, die sich in den letzten Jahren in der nicht biologischen oder zoologischen Tierforschung etabliert haben.
[4] Wirth, Sven, Laue, Anett, Kurth, Markus et al. (Hrsg.): Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies. Bielefeld. 2016.
[5] Kurth, Markus; Dornenzweig, Katharina; Wirth, Sven: Handeln nichtmenschliche Tiere? Eine Einführung in die Forschung zu tierlicher Agency. In: Wirth et al. (Hrsg.): Das Handeln der Tiere. Bielefeld. 2016. S.19.
[6] Ebd. S. 20.
[7] Ebd.
[8] Ebd. S. 23.
[9] Ebd.
[10] Ebd. S. 25.
[11] Ebd. S. 27.
[12] Ebd.
[13] Ebd. S. 31.
[14] Ebd.
[15] Eine anekdotenhafte Sammlung von tierlicher Agency findet sich bei: Despret, Vinciane: Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen? Münster. 2019.
[16] Zur Agency in Sprachexperimenten: Dornenzweig, Katharina: Sprachexperimente mit nichtmenschlichen Tieren als Ausdruck von und Herausforderung für problematische Konzeptionen tierlicher Agency. In: Wirth et al. (Hrsg.): Das Handeln der Tiere. Bielefeld. 2016. S. 149-178.
[17] Zu tierlichen Sprachsystemen: Eva Meijer: Die Sprachen der Tiere. Naturkunden. Band 44. Berlin. 2018.
[18] Zur Debatte rund um Haraways Ansatz: Wirth, Sven: „Laborratte“ oder „worker“ im Vivisektionslabor? Zur Kontroverse um Donna Haraways Konzeptionen von Agency und ihrer Kritik an Tierrechten. In: Wirth et al. (Hrsg.): Das Handeln der Tiere. Bielefeld. 2016. S. 115-135.
[19] Amir, Fahim: Schwein und Zeit. Tiere. Politik. Revolte. Hamburg. 2018.